Wer nie die Wahrheit sagt
Tatendrang, ein Mensch, der nie aufgab. Und jetzt spähte er an ihm vorbei ins Wohnzimmer.
»Simon, wie schön dich zu sehen. Was zum Teufel hast du hier zu suchen?«
Simon grinste seinen Freund an, schüttelte ihm die Hand und meinte lapidar: »Ja, ja, freu mich auch, dich zu sehen, Savich. Ich komme wegen der Bilder. Wo sind sie? Doch hoffentlich nicht hier? Eure jämmerliche Alarmanlage reicht bei weitem nicht aus, um die Bilder hier aufzubewahren, nicht mal über Nacht.«
»Keine Angst, haben wir schon nicht. Komm doch rein. Nein, die Bilder sind in einem Tresorraum, unten im Keller der Beezler-Wexler Gallery, sicher wie in Abrahams Schoß.«
»Gut, gut. Ich möchte, dass du einen Termin für mich arrangierst, damit ich mir die Dinger ansehen kann, Savich.«
»Hattest du bereits gesagt. Aber zuerst mal kriegst du eine Tasse Tee und ein schönes Stück Apfelkuchen. Meine Mom hat ihn gebacken.«
»O nein, nicht deinen erbärmlichen Tee. Kaffee, bitte, Savich, ich flehe dich an. Schwarz. Und dann können wir uns die Bilder ansehen.«
»Jetzt komm schon rein, Simon, und sag hallo zu Sherlock und meiner Schwester Lily.«
Kopfschüttelnd meinte Simon: »Also nicht vor morgen, wie? Und wann?«
»Jetzt reiß dich mal zusammen, Simon. Komm endlich rein. Hallo, Leute, schaut mal, wer hereinschneit. Simon Russo.«
Lilys erster Eindruck von Simon Russo war, dass er viel zu gut aussah, dass er aussah wie ein Engel von Raffael mit dickem, schwarzem, ein wenig zu langem Haar. Er war größer als ihr Bruder, hoch aufgeschossen und hager, die Augen blauer als ein Winterhimmel über der Bucht von San Francisco. Und er wirkte beunruhigt. Er war nicht rasiert, trug Jeans, Sneakers, ein weißes Hemd, eine gelbrote Krawatte und ein Tweedjackett. Und er sah aus, als wüsste er Bescheid, ein Wissen, das auch gefährliche Dinge mit einschloss. Lily war sich sicher bis ins Mark, dass sie ihm nicht über den Weg trauen würde, und sollte er ihr gegenüber einen Blutschwur leisten.
In ihrem Gehirn blinkten auf einmal jede Menge roter Lämpchen auf. Nein, den wollte sie nicht als Mann sehen. Er war ein Experte, der aus irgendeinem Grund ihre Sarah-Elliotts sehen wollte. Er war Dillons Freund, sie brauchte sich also seinetwegen keine Sorgen machen. Trotzdem, unwillkürlich verkroch sie sich ein wenig tiefer in dem großen Sessel. Man konnte nie wissen.
»Simon!« Sherlock schoss wie eine Kanonenkugel auf ihn zu und warf sich ihm lachend um den Hals; sie reichte ihm kaum bis zum Kinn. Auch er umarmte sie und drückte einen Kuss auf ihre wippenden Locken. Endlich löste sie sich ein wenig und gab ihm einen Schmatz auf seine stoppelige Wange. »Du liebes bisschen, du hast’s aber eilig. Ja, ich weiß, dir liegt weniger daran, uns zu sehen als diese verdammten Bilder. Tja, da wirst du dich wohl bis morgen gedulden müssen.«
Lily beobachtete, wie er ihre Schwägerin wieder an sich zog, ihr noch einen Kuss aufs Haar gab und sagte: »Ich liebe dich, Sherlock, und ich würde dich liebend gerne weiter abküssen, aber mit Dillon ist nicht gut Kirschen essen. Der kann mich in einem fairen Kampf glatt töten. Das einzige Mal, dass ich ihn je geschlagen habe, da hatte er eine gewaltige Erkältung, und selbst da war’s knapp. Außerdem kämpft der Kerl dreckig. Ich will nicht, dass er mir in meine perfekten Zähne fährt.« Er hob sie hoch über seinen Kopf und ließ sie dann langsam wieder herunter.
Savich meinte, die Arme vor der Brust verschränkt: »Noch ein Kuss auf die Haare, und ich werde mich deiner Beißerchen annehmen müssen.«
Simons Antwort kam prompt. »Gut, gut, werde mich also weiter auf die Bilder konzentrieren, aber Sherlock, ich will, dass du weißt, wer hier zuerst scharf auf dich war.« Er machte Anstalten, sie noch mal zu küssen, seufzte jedoch und meinte: »Ach, hol’s der Teufel.«
Dann richtete er seine verblüffenden königsblauen Augen auf Lily und lächelte sie an, ein viel zu nettes Lächeln, wie sie fand, und sie wäre auf einmal am liebsten aufgestanden und abgehauen. Der Typ war gefährlich.
»Wieso«, sagte sie, ohne sich in dem Sessel zu rühren, »sind Sie so scharf drauf, meine Bilder zu sehen?«
Savich runzelte die Stirn und blickte sie mit schief gelegtem Kopf an. Sie klang, als wäre sie sauer, als hätte sie Simon am liebsten mit einem Fußtritt aus dem nächsten Fenster befördert. Beschwichtigend sagte er: »Aber Lily, wieso die Förmlichkeit? Das ist doch Simon Russo. Ich habe dir doch schon
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