Wer nie die Wahrheit sagt
Du siehst aus wie einer von den Geistern aus der Weihnachtsgeschichte. «
Lily rang sich ein Lächeln ab und tat, wie ihr geheißen. Sie war noch immer recht schwach, und der lange Flug an die Ostküste hatte ihr den Rest gegeben. Eine Stunde später erwachte sie und hörte Dillon und Sherlock mit Sean reden. Sie schmusten und balgten sich mit ihm, bis er schließlich so überdreht und erschöpft war, dass er zwei Minuten lang wie am Spieß schrie. Und dann kippte er um, als hätte man ihm den Stecker rausgezogen. Sein Zimmer lag gleich neben dem Gästezimmer, wo sie still im Zwielicht lag. Sie merkte erst, dass sie weinte, als eine Träne sie auf ihrer Wange kitzelte. Sie wischte sie fort.
Als sie hörte, wie jemand leise ihre Tür öffnete, schloss sie die Augen. Nein, sie konnte jetzt noch niemanden sehen, obwohl sie beide von Herzen dafür liebte, dass sie sich ihrer so annahmen. Sie tat, als schliefe sie. Als sie sie runtergehen gehört hatte, stand sie auf und ging nach nebenan ins Kinderzimmer. Sean schlief auf den Knien, das Hinterteil in die Höhe gereckt, zwei Finger im Mund, sein kostbares kleines Gesicht ihr zugekehrt. Er sah aus wie sein Vater, doch die verträumten blauen Augen hatte er von seiner Mutter. Sie strich sanft mit den Fingern über seinen Rücken. So klein, so perfekt.
Sie weinte um der Schönheit dieses kleinen Wesens willen und um Beth, die sie verloren hatte.
Später an diesem Abend, sie saß vor einem gut gehäuften Teller von Dillons Lasagne, fragte sie: »Habt ihr schon was aus dem Büro gehört? Hat man Marilyn Warluski gefunden?«
Savich beantwortete die Frage. »Noch nicht. Aber ihren Freund, den hat man gefunden. Tony Fallon heißt er, behauptet aber, nichts von ihr gehört zu haben. Ein paar Leute in Bar Harbor haben sie auf einem Foto erkannt und sagen, sie hätten sie kürzlich gesehen. Jetzt werden ihn sich unsere Jungs noch mal gründlich vorknöpfen. Bald haben wir was, wirst sehen.«
»Hoffen wir jedenfalls«, wiegelte Sherlock ab. Dann schmunzelte sie. »Du hättest Dillons Mutter sehen sollen, als wir Sean abholten – sie wollte nicht, dass wir ihn mitnehmen. Hat gesagt, wir hätten ihr mindestens eine Woche versprochen, aber das war gelogen; es war noch nicht mal eine ganze Woche. Hat uns den ganzen Weg aus der Auffahrt wie ein Rohrspatz hinterhergeschimpft.«
Savich schüttelte den Kopf. »Und jetzt wird er wieder so verwöhnt sein, dass wir erst ein paar Mal nein zu ihm sagen müssen, bevor er wieder auf den Teppich kommt.«
»Ich wette, Mom würde ihn liebend gerne ganz nehmen«, behauptete Lily.
»Na ja«, meinte Savich, »sie hat ihr eigenes Leben. Sie ist seine Belohnung; zwei-, dreimal die Woche kriegt er eine Dosis Oma. Funktioniert ganz gut so. Unser Kindermädchen, Gabriella Henderson, ist einfach Spitze. Sie ist jung und hat noch genug Energie, um mit ihm Schritt halten zu können. Und glaub mir, der kleine Kerl kann einen in Windeseile fix und fertig machen.«
Lily lachte und schaute zu Sean hinüber, der in seinem Walker saß, einem quadratischen kleinen Apparat mit Rollen, mit dem er, sich mit den Fußspitzen abstoßend, überall im Erdgeschoss herumgurken konnte. Wenn er irgendwo anstieß, änderte er einfach die Richtung.
»Die Rollen sind zwar schlecht für den Fußboden«, sagte Savich, »aber Sherlock und ich haben beschlossen, dass wir ihn einfach neu machen lassen, wenn Sean mal so weit ist, dass er läuft.«
»Ist das nicht komisch? Hätte mir nie vorstellen können, dass du mal ein Kind haben würdest, Dillon«, meinte Lily nachdenklich.
Savich lächelte und half ihr, auf seinem ausladenden Polstersessel Platz zu nehmen. »Ich auch nicht. Aber dann kam Sherlock in mein bequemes Leben geschneit, und auf einmal erschien es mir als das einzig Richtige. Wir haben echt Glück, Lily. Und jetzt, Schätzchen, wir waren den ganzen Tag im Flugzeug unterwegs, und du hast wahrscheinlich einen enormen Jetlag, ganz besonders, da doch deine Operation erst eine Woche her ist. Ich möchte, dass du jetzt erstmal mindestens zehn Stunden pennst, bevor du dich mit der Washingtoner Wirklichkeit auseinander setzt.«
»Du und Sherlock, ihr müsst doch ebenfalls einen Jetlag haben. Auch wenn ihr als FBI-ler oft unterwegs seid …«
Es klingelte an der Haustür.
Savich ging um Sean herum, der sich wie aus der Pistole geschossen in Richtung Haustür auf den Weg gemacht hatte. Es war Simon Russo. Savich kannte ihn als einen Mann voller Intensität und
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