Wer nie die Wahrheit sagt
mal alle zusammen hingehen und ihn singen hören.«
Sie sagte nichts dazu.
»Warum misstrauen Sie mir, Mrs. Savich? Warum diese Antipathie?«
Sie schaute ihm eine ganze Weile lang wortlos in die Augen, nahm dann einen Bissen Apfelkuchen und sagte schließlich: »Das möchten Sie lieber nicht wissen, Mr. Russo, glauben Sie mir. Und ich habe mich entschieden: Wenn Dillon Ihnen vertraut, dann kann ich Ihnen ebenso gut auch vertrauen.«
12
Raleigh Beezler, Co-Inhaber der Beezler-Wexler-Galerie in Georgetown, New York und Rom, bedachte Lily mit dem kummervollsten Blick, den sie seit langem gesehen hatte, mindestens so kummervoll wie der von Mr. Monk im Museum in Eureka.
Er warf den Bildern einen Handkuss zu. »Aah, Mrs. Frasier, sie sind so unglaublich, so einmalig. Nein, nein, sagen Sie nichts. Ihr Bruder hat mir bereits mitgeteilt, dass wir sie nicht hier behalten dürfen. Ja, ich weiß, und ich weine. Sie müssen ihren Weg in die großen Museen finden, auf dass die ungewaschenen Massen in ihren zerknitterten Bermudashorts davor stehen und sie begaffen können. Aber es treibt mir die Tränen in die Augen, schnürt mir die Kehle zu, Sie verstehen.«
»Ich verstehe, Mr. Beezler«, beschwichtigte Lily und tätschelte ihm den Arm. »Aber ich glaube wirklich, sie gehören in ein Museum.«
Savich hörte eine vertraute Stimme mit Dyrlana sprechen, der umwerfenden zweiundzwanzigjährigen Galerieangestellten, die, wie Raleigh freimütig zugab, vor allem deshalb angestellt worden war, um den Herren das Öffnen des Geldbeutels ein wenig schmackhafter zu machen. Savich wandte sich um und rief: »Hallo, Simon, wir sind hier hinten.«
Lily blickte durch die offene Tür des Tresorraums und sah, wie Simon Russo auf sie zusprintete; in weniger als zwei Sekunden war er bei ihnen, kam schlitternd zum Halten und rang nach Luft, als er die acht Sarah-Elliotts erblickte, jedes Bild liebevoll auf einer mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Staffelei aufgestellt. »Mein Gott«, sagte er und dann nichts weiter.
Langsam schritt er von Bild zu Bild, immer wieder innehaltend, um sich dies oder jenes genauer anzusehen. Schließlich sagte er: »Du weißt doch, Savich, dass mir deine Mutter Die Letzte Ölung zum College-Abschluss geschenkt hat. Damals war’s mein Lieblingsbild, und ich glaube, das ist es noch immer. Aber das hier – Die Jungfernfahrt –, das haut mich einfach um. Ich sehe es jetzt zum ersten Mal. Schau dir nur das Spiel des Lichts auf dem Wasser an, die hauchzarten Schatten, wie Schleier. Nur eine Sarah Elliott konnte einen solchen Effekt erzielen.«
»Bei mir«, warf Lily ein, »sind es immer die Gesichter der Leute. Ich habe mir immer am liebsten den Ausdruck auf den Gesichtern angesehen, vollkommen unterschiedlich und so unwahrscheinlich beredt, so ausdrucksvoll. Den Besitzer des Schiffes erkennt man allein schon am Ausdruck auf seinem Gesicht. Und seine Mutter – diese Selbstzufriedenheit, dieser Stolz auf das, was er erreicht hat, und die Liebe, die sie für ihn empfindet und für das Schiff, das er gebaut hat.«
»Ja, aber es ist ihr meisterhaftes Spiel mit Licht und Schatten, das sie weit über alle anderen modernen Maler erhebt.«
»Nein, da muss ich Ihnen widersprechen. Es sind die Menschen, ihre Gesichter, man sieht einfach alles in ihren Gesichtern. Man hat das Gefühl, sie zu kennen, zu verstehen, was in ihnen vorgeht, wie sie denken.« Sie merkte, dass er ihr erneut widersprechen wollte, und ging einfach darüber hinweg. »Aber das hier war schon immer mein Lieblingsbild.« Sie berührte mit den Fingerspitzen den Rahmen von Schwanengesang. »Fällt mir schrecklich schwer, es an ein Museum zu geben.«
»Dann behalte es doch bei dir«, meinte Savich. »Ich habe Die Wacht des Soldaten auch behalten. Die Versicherung kostet zwar ein Schweinegeld und die Alarmanlage auch, aber es weiß ja kaum jemand davon, und genauso solltest du’s auch machen. Behalte es in deinem Haus, und rede nicht darüber.«
Simon, der gerade ein weiteres Bild studiert hatte, blickte auf. »Ich habe Die Letzte Ölung in der Galerie eines Freundes in der Nähe meiner Wohnung hängen. Ich schaue es mir fast täglich an.«
»Was für eine brillante Idee«, sagte Raleigh Beezler und strahlte Lily mit neu erwachter Hoffnung an. »Wissen Sie, Mrs. Frasier, dass keine zwei Blocks von meiner herrlich schönen, herrlich sicheren und herrlich ruhigen Galerie ein exquisites Stadthaus zu verkaufen ist, das Ihnen alle Bequemlichkeiten
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