Wer nie die Wahrheit sagt
Cornflakes, ein bisschen Milch und ein paar Äpfel, alles noch ziemlich frisch. Er kann also noch nicht lange weg sein.«
»Er hat seine Sachen gepackt und ist gegangen. Seine ganze Kleidung, sein Koffer, alles weg, selbst seine Zahnpasta«, fügte Lily hinzu.
»Denkst du, er ist nach London geflogen, mit diesem Bild, an dem er gerade gearbeitet hat?«
»Ich hoffe nicht. Es war wirklich gut, zu gut sogar.«
Colin Smith erkundigte sich: »Sie befürchten, er könnte tot sein? Ermordet, wie Mr. Monk?«
Simon nickte. »Hatte einen Augenblick lang ein ganz schlechtes Gefühl. Wir sollten Lieutenant Dobbs informieren. Agent Smith, ob Sie wohl Clark Hoyt anrufen und es ihm erzählen könnten? Wissen Sie, Abe hatte jede Menge Sachen – allein dreißig Bilder lehnten hier an den Wänden. Und ein Motorrad. Aber vielleicht hat er sich ja einen Anhänger gemietet, um alles abzutransportieren.«
»Oder vielleicht hat ihm einer der Frasiers einen Lieferwagen geborgt.«
»Vielleicht. Also, Agent Smith, Lily und ich werden jetzt Morrie Jones einen Besuch abstatten. Ich muss mit Lieutenant Dobbs und mit dem Staatsanwalt reden, mir ihr Okay einholen. Hab ein Angebot für Morrie, das er unmöglich ablehnen kann.«
Lily hielt eine Hand hoch. »Ich will’s gar nicht wissen. Vielleicht haben sie ja inzwischen rausgekriegt, wer seinen Anwalt bezahlt.« Simon zog die Tür der Hütte hinter sich zu und winkte Agent Smith zum Abschied.
»Verlass dich nicht drauf«, sagte er.
19
SAINT JOHN’S, ANTIGUA
Öffentliches Verwaltungsgebäude,
nahe Reed Airport
»Es ist so hell, so heiß und so blau«, sagte Sherlock, sich am Arm kratzend. Dann seufzte sie. »Weißt du, Sean würde es hier wirklich gefallen. Wir könnten ihn ausziehen und ihn nackt im Sand spielen lassen, eine Burg mit ihm bauen, vielleicht auch einen Burggraben. Ich kann ihn mir richtig vorstellen, wie er sich auf die Burg wirft und sie platt walzt und dabei quietscht vor Freude.«
Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, merkte Sherlock, dass Dillon ihr nicht zuhörte. Sie konnte sich nur vorstellen, was wohl in ihm vorgehen musste, all die Zweifel und Fragen. Das hier war seine Show, und natürlich machte er sich Sorgen, wer würde das nicht. Sie arbeiteten über das amerikanische Konsulat mit der Royal Police Force zusammen, deren Hauptwache, seltsam genug, in der American Road lag. Aber dies war trotz allem Ausland; sie hatten es mit Einheimischen zu tun, die ziemlich verwirrt waren angesichts des massiven Auftretens der amerikanischen Bundespolizei – ganze fünfzig Mann –, wo es doch bloß darum ging, eine einzige Frau festzunehmen, die nur einen Arm hatte und offenbar auch noch zum Flughafen kommen würde. Doch als Savich der ganzen Gruppe Fotos von ihren Opfern zeigte, einschließlich des letzten auf Tortola, das sie vor allem schockierte, waren sie bereit, dem amerikanischen FBI jede Unterstützung zu geben.
Tammy konnte Antigua nicht vor dem späten Vormittag erreicht haben, unmöglich, selbst mit einem schnellen Motorboot. Tortola war einfach zu weit entfernt. Das Wetter war in den letzten Tagen ruhig gewesen, keine heftigen Winde, kein Wellengang. Sie hätte nicht vor ihnen hier sein können, außer mit dem Flugzeug, und der Flugverkehr wurde selbstverständlich überwacht, nicht nur auf Tortola, auch auf den benachbarten Inseln. Und selbst geflogen sein konnte sie nach allen Recherchen auch nicht. Sie hatten also Zeit gehabt, hatten alles in Ruhe aufgebaut, alle Posten waren besetzt.
Sherlock musterte ihn prüfend. »Wir haben Zeit. Hör auf, dir Sorgen zu machen. Marilyn wird in zwei Stunden hier sein. Wir gehen alles mit ihr durch, Schritt für Schritt.«
»Und wenn Tammy nun nicht allein ist? Wenn Tammy nun die ganze Zeit als Timmy unterwegs gewesen ist? Du weißt ja, es war Timmy, der Marilyn in Quantico angerufen hat.«
Sherlock hatte ihren Mann noch nie so unsicher erlebt.
Mit einer Stimme, so ruhig wie das unendliche blaue Meer, keine hundert Meter weit weg, sagte Sherlock: »Ein Arm ist trotz allem nur ein Arm. Niemand hat jemanden mit einem Arm herumwanken gesehen, weder auf Tortola noch auf den anderen Inseln. Sie ist ganz entschieden im Nachteil. Du weißt, dass alle Polizisten, ob auf den britischen Virgin Islands oder auf den amerikanischen Virgin Islands, in höchster Alarmbereitschaft sind. Auf Antigua kennt man so was nicht, also kannst du wetten, dass sämtliche Polizisten die Augen offen halten, besonders seit du ihnen diese Fotos
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