Wer nie die Wahrheit sagt
anderen hielt er ihr das Messer an die Kehle. In diesem Moment sah Savich, der leise mit Vinny Arbus telefonierte, das Blut aus Virginia Cosgroves Hals sprudeln. Nur eine Sekunde zuvor hatte er dorthin geblickt. Wie war das möglich? Dann sah er, wie ein Mann Marilyn wegschleifte, ein Messer an ihrer Kehle. Ein Dutzend anderer Agenten und mindestens ein Dutzend Zivilisten sahen Virginia zu Boden stürzen, sahen, wie sich überall ihr Blut ergoss, sahen den totenbleichen Mann Marilyn Warluski wegschleppen.
Auf einmal brach die Hölle los. Menschen schrien, rannten ziellos umher oder standen einfach schreckerstarrt da; manche ließen sich zu Boden fallen und verbargen den Kopf unter den Armen. Vor allem jedoch, und das würde keiner der Anwesenden vergessen, lag der Geruch von Blut in der Luft, Virginia Cosgroves Blut.
Jetzt war doch jemand als Geisel genommen worden, aber es war nicht irgendwer, es war Marilyn Warluski.
Savich erblickte den Mann, der endlich unter der kopflosen, schreienden Menge auftauchte, und dieses Gesicht hätte er überall wiedererkannt. Es war Tammy Turtles Gesicht – oder doch nicht ganz. Nein, das war unmöglich. Aber Savich würde noch im Grab schwören können, dass es ein Mann war, der Marilyn ein Messer an die Kehle hielt, und dass dieser Mann zwei Arme hatte, denn Savich sah zwei Hände, sah sie mit eigenen Augen. Es musste jemand anders sein, nicht Tammy Tuttle, als Mann verkleidet. Jemand, der Tammy ähnlich genug sah, um ihn täuschen zu können. Aber wie hatte es dieser Mann mit dem irren Blick geschafft, so schnell und so dicht an Virginia und Marilyn ranzukommen? Ohne dass es jemandem aufgefallen war? Auf einmal ergab nichts mehr einen Sinn.
Agenten packten Touristen, die noch standen, und stießen sie zu Boden, machten den Weg frei zu dem Mann und seiner Geisel.
Ein hiesiger Polizist, ein ziemlich junger Mann mit einem Schnurrbart, war als Erster dort. Er schrie den Mann an, stehen zu bleiben, und gab einen Warnschuss in die Luft ab.
Der Mann wandte sich seelenruhig zu dem Polizeibeamten um, zog so schnell, dass man es nicht mit den Augen verfolgen konnte, eine SIG Sauer aus der Tasche und schoss dem Beamten mitten durch die Stirn. Dann wandte er sich um, und es schien, als hätte er Savich erblickt, der mindestens fünfzehn Meter von ihm entfernt war. Er brüllte: »He, ich bin’s, Timmy Tuttle! Hall-ooooo allerseits!«
Savich ignorierte ihn. Das musste er, um funktionieren zu können. Er wusste, dass die im Gebäude postierten Scharfschützen Tuttle im Visier hatten. Bald, sehr bald schon, würde alles vorbei sein.
Immer am Rand der Halle, bewegte er sich vorwärts, glitt hinter den Schalter der Caribbean Airlines, hinter sich ein halbes Dutzend Agenten, immer näher an Timmy Tuttle heran.
Drei Schüsse ertönten. Laut, klar und scharf. Das waren die Scharfschützen, und sie hätten nicht gefeuert, wenn sie nicht ein klares Ziel gehabt hätten.
Savich hob den Kopf. Er wusste, dass er nur mehr höchstens sechs Meter von Timmy Tuttle entfernt sein konnte. Er sah ihn nicht. War es möglich, dass sie ihn verfehlt hatten?
Dann noch ein halbes Dutzend Schüsse, Schreie und das tiefe, hässliche Stöhnen von Menschen, die vor Angst panisch waren.
Savich spürte etwas, etwas Starkes und Saures, und er wandte sich rasch um. Er sah Sherlock, drei Meter hinter sich, etwas links, mit drei anderen Agenten. Sie erhob sich aus ihrer knienden Stellung, die SIG Sauer dahin gerichtet, wo Timmy Tuttle und Marilyn noch Sekunden vorher gewesen waren. Sie sah ebenso verwirrt aus, wie er sich fühlte. Er musste all seine Willenskraft aufbieten, um ihr nicht zuzurufen, sie solle zurückbleiben, o Gott, bloß zurückbleiben, er wollte nicht, dass ihr etwas zustieß. Aber worin bestand eigentlich die Gefahr? Aus einem Mann, der kein richtiger Mann war, sondern ein Fantasiegespinst, in voller Kleidung, entsprungen aus Tammy Tuttles irrem Gehirn?
Savich sah Stoff aufblitzen, roch Blut, und er wusste einfach, dass es Timmy Tuttle war. So schnell er konnte rannte er zum Konferenzzimmer, dem einzigen Ort, wo Timmy Marilyn hingebracht haben konnte. Mit einem Fußtritt stieß er die Tür auf.
Regungslos hielt er inne, die Pistole ausgestreckt vor sich haltend, bereit zu feuern. In der Mitte des Raums stand ein großer rechteckiger Tisch, rings um ihn herum zwölf Stühle, ein Overheadprojektor, ein Fax und zwei oder drei Telefone.
Der Raum war vollkommen leer. Niemand zu sehen. Doch selbst hier
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