Wer paßt schon gern auf Mädchen auf?
erklärte Papa. „Sie bleibt so lange, bis unser kleiner Gast wieder weg ist. Du hast also Mama und Stina bei dir zu Hause.“
Jan wollte gerade sagen, daß er viel lieber allein mit Mama war. In diesem Augenblick tanzte Stina splitterfasernackt herein. Sie quiekte vor Vergnügen. Ihre Haare waren naß, und große Tropfen fielen auf den Fußboden.
Mama jagte mit einem Badetuch lachend hinterher. Sie trocknete Stina ab.
Papa nahm die kichernde Kleine auf den Arm und brachte sie gemeinsam mit Mama ins Kinderzimmer.
Jan stand wieder am Fenster. Die Abende waren immer das Schönste vom ganzen Tag gewesen. Dann kamen die Eltern endlich nach Hause. Sie spielten mit ihm. Oder sie unterhielten sich alle drei.
Er machte die Augen zu. Er stellte sich vor, daß Mama in ihrem großen, roten, bequemen Sessel saß und stickte.
Papa war wie üblich in die Zeitung vertieft. Gleich würde er irgend etwas Lustiges daraus vorlesen.
Nur die kleine Leselampe brannte. Es war sehr gemütlich.
Ich sitze ganz still, dachte Jan, und bilde mir ein, daß es außer Papa, Mama und mir niemand auf der ganzen Welt gibt.
Jan öffnete die Augen. Das harte Deckenlicht blendete ihn. Mamas Stuhl war leer. Die Zeitung lag auf dem Boden.
Aus dem Kinderzimmer drang Papas tiefes Lachen. Auch Mama lachte. Sie lachte albern wie ein junges Mädchen. Und noch jemand lachte wie...
Jan wußte nicht, wie seine Kusine lachte. Aber dumm war sie auf jeden Fall.
Er schlich ins Badezimmer und machte die Tür hinter sich zu. Er wollte fertig sein mit Waschen und Zähneputzen, ehe Mama und Papa sich erinnerten, daß sie auch noch einen Jungen hatten.
Mama setzte sich wie jeden Abend auf Jans Bettkante und las ein Märchen vor.
Stina sprang mit einem Satz vom Sofa. Sie hüpfte dreist in Jans Bett und rollte sich am Fußende zusammen.
Jan wußte nicht, wo er seine Füße lassen sollte.
Stina lutschte zufrieden am Daumen.
Jan fand das schmatzende Geräusch unerträglich. Bald war Stina ruhig, und Mama hörte auf zu lesen.
„Sieh mal“, flüsterte Mama. „Ist sie nicht süß?“
Ein schlafender Hund war süß. Aber ein kleines Mädchen in einem rotgepunkteten Schlafanzug wollte Jan nicht in seinem Bett haben.
„Jan, du kannst doch deine kleine Kusine nicht mit den Füßen stoßen“, sagte Mama entsetzt.
„Ich stoße niemanden. Ich strecke mich nur aus“, verteidigte sich Jan und drehte sich beleidigt auf die andere Seite.
Er zog die Decke über den Kopf und tat, als schliefe er.
Mama hatte Mitleid mit ihm. Er war ja so krank gewesen! Er braucht viel Ruhe, hatte der Arzt gesagt. Deshalb trug Mama die Kleine zum Sofa und deckte sie gut zu.
Kaum hatte Mama die Tür hinter sich zugemacht, fing Stina an, sich hin und her zu drehen. Die Bettdecke raschelte. Das Mädchen wimmerte. Das Sofa knarrte.
„Sei endlich ruhig“, fauchte Jan.
Es wurde still. Jan zählte bis zehn. Da fing der Lärm wieder an. Jan hielt sich die Ohren zu.
Jetzt heulte Stina auch noch. Na ja... Jan hatte sich zwar nicht so gemein wie Martin benommen, aber besonders nett war er zu der „Überraschung“ auch nicht gewesen.
„Was ist denn los?“ fragte Jan.
„Das Licht muß an sein“, schluchzte Stina.
„Hast du Angst im Dunkeln?“
„Ja-a-a“, wimmerte Stina. „Schreckliche Angst.“
Jan dachte einen Augenblick daran, mit verstellter, tiefer Stimme eine schaurige Geschichte zu erzählen. Er hatte Lust, seine Kusine so zu erschrecken, daß sie gleich morgen abreisen würde.
Aber er kannte keine schaurige Geschichte. Außerdem wäre es von einem so großen Jungen doch sehr niederträchtig, einem so kleinen Mädchen Angst einzujagen. Die Kleine war höchstens...
„Wie alt bist du eigentlich?“ fragte Jan.
Stina schluckte, bevor sie antwortete: „Weihnachtsabend werde ich sechs.“
Geburtstag am Weihnachtsabend. Sie mußte einem leid tun.
„Meine Eltern haben mich als Weihnachtsgeschenk bekommen“, erklärte Stina.
Die konnten einem ebenfalls leid tun, dachte Jan. Als Weihnachtsgeschenk wollte er Stina nicht haben.
Um weiteren Krach zu vermeiden, knipste Jan die Nachttischlampe an.
Stina kuschelte sich unter die Decke und schlief wieder. Das glaubte Jan wenigstens.
Das Licht blendete ihn. Aber als er es ausmachte, heulte Stina sofort wieder. Jetzt mußte sie auch noch auf die Toilette. Dann wollte sie ein Glas Wasser haben. Und es dauerte nicht lange, bis sie wieder Pipi machen mußte.
Jedesmal mußte Jan mitgehen, um das Licht an- und auszuknipsen.
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