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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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stieß nun seine Rivalen beiseite und zeigte sein wahres Gesicht. Demonstrativ machte er sich Maos altes Mantra »Suche die Wahrheit in den Fakten« zu eigen und ging die unangenehmste Wahrheit in China frontal an: Die Bevölkerung wuchs schneller als die Wirtschaft. Um all die leeren Mägen zu füllen, die jedes Jahr ins arbeitsfähige Alter kamen, musste Chinas Wirtschaft mindestens eine Generation lang jedes Jahr um sieben Prozent wachsen. Andernfalls drohten Hungersnöte, die selbst den Großen Sprung in den Schatten gestellt hätten.
    Aller historischen Erfahrung nach würde auch China, wenn es nur Frieden und eine geeinte Regierung hätte – was beides seit den 1840er Jahren nicht mehr der Fall gewesen war –, innerhalb der westlich dominierten globalen Ökonomie prosperieren können. Deng allerdings ging noch weiter: Um den Druck auf die Ressourcen zu mindern, führte er die berüchtigte Ein-Kind-Politik ein, die (theoretisch) von Frauen mit zwei Kindern verlangte, sich sterilisieren zu lassen. 1* Und um die Verfügbarkeit der Ressourcen zu erhöhen, machte er sich stark für die Integration Chinas in die Weltwirtschaft. China trat der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds bei, eröffnete Sonderwirtschaftszonen, um Kapitalisten aus Macao, Hongkong und Taiwan anzulocken, und genehmigte sogar ein Coca-Cola-Werk in Shanghai.
    Bis 1983 hatte Deng Xiaoping die Volkskommunen Maos praktisch eliminiert. Die Bauern gingen »Nebenbeschäftigungen« nach, deren Gewinn in ihre eigene Tasche fließen durfte, und auch Geschäftsleuten war es nun gestattet, einen Teil ihrer Profite einzubehalten. Das Ackerland gehörte immer noch den Kollektiven, aber Familien konnten nun Parzellen auf 30 Jahre pachten und sie privat bewirtschaften. In den Städten durfte Wohneigentum erworben und sogar mit Hypotheken belastet werden. Die Produktion stieg steil an, und obwohl die Liberalisierung die Konservativen entsetzte, gab es kein Zurück. Deng erklärte:
     
    |528| Während der Kulturrevolution herrschte die Auffassung, dass ein armer Kommunismus einem reichen Kapitalismus vorzuziehen sei. … Weil ich gegen diese Auffassung war, wurde ich gestürzt. … Die Hauptaufgabe des Sozialismus ist die Entwicklung der Produktivkräfte, die stetige Verbesserung der Lebensbedingungen des Volkes und die Mehrung des materiellen Wohlstands der Gesellschaft. … Reich werden ist keine Sünde. 66
     
    Von ähnlichen Gedanken wurden, 6000 Kilometer entfernt, auch die Kommunisten in Moskau geplagt. Nach dem Schock der Chinareise Nixons war es für die Sowjetunion in den 1970er Jahren recht gut gelaufen. Als die arabischen Staaten die Ölpreise in die Höhe trieben, profitierte davon – als großer Erdölexporteur – auch die Sowjetunion. Mit dem hereingespülten Geld finanzierte und gewann Moskau eine Reihe von Stellvertreterkriegen und überflügelte 1978 das amerikanische Atomwaffenarsenal. Dann artete eine Intervention zur Stützung eines Satellitenregimes in Afghanistan in einen Zermürbungskrieg aus, der sich durch die 1980er Jahre zog, die Ölpreise fielen um zwei Drittel und die USA erhöhten ihre Militärausgaben drastisch, besonders für High-Tech-Waffen.
    Das Politbüro trug sich bereits mit der Sorge, dass den gewöhnlichen Sowjetbürgern der Stillstand ihres Zuges aufgefallen war. Die sowjetische Staatswirtschaft konnte Panzer und Kalaschnikows am laufenden Band produzieren, aber keine Computer und Autos. 2* Überall gärte Regimekritik. Beim Gedanken an ein neues Wettrüsten befiel die Herrscher des Sowjetimperiums das Grauen.
    »So kann man nicht weiterleben« 68 , gestand Michail Gorbatschow seiner Frau Raissa, als sie 1985 durch ihren Garten schlenderten. Gorbatschow sollte wenige Stunden später zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei und damit zum neuen Führer der Sowjetunion ernannt werden, doch der Garten war der einzige Ort, an dem er der Schnüffelei seiner eigenen Spitzel entging. Wie Deng wusste Gorbatschow, dass er der Realität ins Auge sehen musste. Die Explosion eines antiquierten Atomreaktors in Tschernobyl offenbarte 1986, dass die Sowjetunion nicht nur zurückfiel, sondern auseinanderbrach. Unter den Schlagworten Öffnung (Glasnost) und Umbau (Perestroika) setzte Gorbatschow mit Hochdruck Reformen in Gang – nur um zu entdecken, was Marx und Engels schon anderthalb Jahrhunderte zuvor erkannt hatten: Die Liberalisierung fegt
alle
festen, eingerosteten Verhältnisse beiseite – nicht nur jene, die

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