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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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Kaufkraft) darauf, sich ihrer Musik hinzugeben, mit ihrer Haartracht und ihren Klamotten zu provozieren sowie die Bastionen der überkommenen Sexualmoral zu stürmen. Doch in China lenkte Mao die Energie zorniger Jugendlicher auf seine eigenen Mühlen. 1966 predigte er eine permanente »große proletarische Kulturrevolution« und stachelte die Jungen zu einem Angriff auf alles Bestehende auf.
    Millionen von Heranwachsenden verließen ihre Schulen und Universitäten und verwandelten sich in randalierende Rotgardisten, die zuerst ihre Lehrer schlugen und erniedrigten und dann alle anderen, die ihnen reaktionär vorkamen. Während |526| westliche Jugendliche die Revolution beschworen, lebten die jungen Chinesen sie aus. Ein Literaturstudent verkündete stolz per Wandzeitung:
     
    Es war Klassenhass, der mich dazu veranlasste, [meine Klassenkameradin] Li Jianping zu denunzieren, und das entflammte den Zorn der Massen. Sie schlugen sie – ein konterrevolutionäres Element, das vom alten kommunalen Parteikomitee so viele Jahre beschützt worden war – mit ihren Knüppeln zu Tode. Es war ein ungeheuer befriedigendes Ereignis, das revolutionäre Volk zu rächen, die toten Märtyrer zu rächen. Als Nächstes werde ich einige Rechnungen mit jenen Bastarden begleichen, die Verrätern Schutz gewähren. 62
     
    Mao versuchte, den Zorn der Roten Garden gegen seine Rivalen zu richten, doch er bekam sie nie wirklich unter Kontrolle. Da niemand davor sicher war, als Konterrevolutionär denunziert zu werden, beeilten sich die Leute, mir ihrer Kritik die Ersten zu sein. Für viele war es einfach verwirrend. So murrte ein Latrinenwärter, dass er seine Arbeit verloren habe, weil zu viele Professoren im Rahmen ihrer Umerziehung zur Reinigung von Toiletten gezwungen wurden. Viele fanden es jedoch berauschend. Die Fabriken kamen knirschend zum Stillstand, als junge Arbeiter sich zusammenrotteten, um zu den Studenten zu stoßen. Rotgardisten luden Filmteams ein, um zu dokumentieren, wie sie buddhistische Statuen, konfuzianische Tempel und Relikte der Han-Dynastie zertrümmerten. Eine Bande besetzte sogar das Außenministerium und ernannte ihre eigenen, durch und durch proletarischen Diplomaten.
    1969, als die Ereignisse offenbar auf ein Desaster vom Ausmaß des Großen Sprungs zutaumelten, riss selbst Mao der Geduldsfaden. Tausende waren umgekommen, Millionen Leben ruiniert. Die asiatischen Tiger zogen der Volksrepublik stetig davon. Die Beziehungen zu den Sowjets waren so schlecht, dass mittlerweile 800 Chinesen bei Zwischenfällen an der Grenze getötet worden waren. Mao distanzierte sich nachträglich von den Radikalen und sah sich nach einem Rettungsanker um.
    Beistand erwuchs ihm von der vielleicht denkbar unwahrscheinlichsten Person: dem scharf antikommunistischen US-Präsidenten Richard Nixon. Für Nixon war ein Abkommen mit China ein willkommener Trumpf, um die Sowjets im Kalten Krieg strategisch an die Wand zu spielen, und 1972, nach allerlei Ballwechseln im Rahmen der Ping-Pong-Diplomatie, flog er nach Beijing und schüttelte Mao die Hand. »Das war die Woche, die die Welt verändert hat«, triumphierte Nixon am Ende seines mehrtägigen Besuchs, und in gewisser Weise hatte er Recht. 63 Die Aussicht auf eine Achse Washington–Beijing jagte Breschnew einen solchen Schrecken ein, dass Nixon drei Monate nach seinem Chinabesuch in Moskau saß und dort das Rüstungsbegrenzungsabkommen SALT1 unterzeichnete.
    Mao profitierte beinahe genauso viel. Durch sein Treffen mit Nixon signalisierte er den Pragmatikern, die nach westlicher Technologie hungerten, Unterstützung |527| zu und stellte sich den Radikalen entgegen, die Chinas gebildete Schichten zerschlagen hatten. In einem berühmten Fall hatte ein Bewerber einen begehrten Studienplatz ergattert, weil er ein leeres Prüfungsheft mit der Notiz abgegeben hatte, revolutionäre Reinheit sei wertvoller als »Bücherwürmer, die es sich jahrelang leichtgemacht und nichts Nützliches geleistet haben« 64 . Mit einem Dünkel, den sowjetische Spaßvögel wohl zu goutieren gewusst hätten, argumentierten hohe Radikale (angeblich), dass »ein sozialistischer Zug mit Verspätung besser ist als ein fahrplanmäßig verkehrender revisionistischer« 65 .
    Nach 1972 gewannen die Pragmatiker Boden zurück, auch wenn sich erst nach Maos Tod 1976 das Blatt endgültig zu ihren Gunsten wendete. Deng Xiaoping, unter Mao zweimal als rechter Abweichler ins Umerziehungslager gesteckt und zweimal rehabilitiert,

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