Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
durchschnittliche Russe mit 66, zwölf Jahre früher als Einwohner der Europäischen Union. Zwar war Russland immer noch riesig, reich an Ressourcen und die größte Atommacht der Welt, zwar hatten das autoritäre Regime von Wladimir Putin und steigende Energiepreise das Land bis 2008 machtpolitisch wieder so weit gestärkt, dass es die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken unter Druck setzen und die Europäische Union erpressen konnte. Doch stellte Russland mitnichten eine Bedrohung vom Schlage der alten Sowjetunion dar.
Auch die Europäische Union war weit davon entfernt, die Vorherrschaft Amerikas über das westliche Kerngebiet herauszufordern. Einigen Beobachtern erschien der europäische Schlingerkurs in Richtung wirtschaftlicher und politischer Integration wie ein Stück für Stück beschrittener Weg zu einem mächtigen subkontinentalen Imperium, das endlich friedlich erreichen würde, was die Habsburger, Bourbonen, Napoleon und Hitler durch Gewalt nicht vermocht hatten. Doch in Wirklichkeit blieb Europa aufgrund seiner fortdauernden Meinungsverschiedenheiten, seines nachlassenden Wirtschaftswachstums, seiner alternden Bevölkerung und seiner militärischen Schwäche weit unterhalb des Status einer Supermacht.
Der Nahe Osten spielte im Denken der amerikanischen Planungsstäbe seit dem Zweiten Weltkrieg vor allem deshalb eine Rolle, weil sie befürchteten, dass ein feindseliger Staat die Ölfelder der Region erobern könnte, wie es der Irak 1990 versucht hatte. Sie ignorierten den islamistischen Extremismus, der seit den 1970er Jahren gewachsen war, und waren daher (wie die meisten ihrer Mitbürger auch) von den Attentaten des 11. September 2001 völlig überrascht. Ihr spektakulärstes Fehlurteil fällten die Planer jedoch im Hinblick auf den Osten. Sie hatten nicht erwartet, dass Japan gegen Ende der 1980er Jahre in eine Rezession stürzen würde (und seitdem immer noch mit Stagnation und Deflation zu kämpfen hat), während sein östlicher Hauptrivale China zu einem Höhenflug ansetzte.
|531| 150 Jahre waren vergangen, seit der Westen begonnen hatte, das alte östliche Kerngebiet in eine Peripherie zu verwandeln – und nun offenbarten sich allmählich die Lehren, die daraus zu ziehen waren. Unter der Voraussetzung von Frieden, verantwortlicher Regierungsführung und der Bereitschaft, sich der westlichen Vormacht unterzuordnen, konnte der Osten die kapitalistische Weltwirtschaft für seine eigenen Zwecke nutzbar machen und seine riesigen Bevölkerungen und gelehrten Eliten, die den Westlern des 19. Jahrhunderts als Ausweis der Rückständigkeit erschienen waren, in Triebkräfte des Wirtschaftswachstums verwandeln. Seit den 1840er Jahren hatte China herzlich wenig Frieden, verantwortliche Regierungsführung oder Flexibilität genossen, aber in den 1990er Jahren fing es an, seinen rechtmäßigen Platz in der globalen Ordnung einzunehmen.
1992 bereiste Deng Xiaoping die Sonderwirtschaftszonen in Südchina und legte dort in mehreren Reden sein Vermächtnis einer »sozialistischen Marktwirtschaft« dar. Einmal kletterte er inmitten eines Freizeitparks auf einen Golfwagen und verkündete von diesem Podium herab:
Man muss etwas mehr Mut bei der Reform- und Öffnungspolitik an den Tag legen, Mut zum Experiment, nicht wie Frauen mit gebundenen Füßen. Wenn man das Ziel erkannt hat, dann mutig versucht, dann mutig drauflos! … Das Zulassen von Versuchen ist viel besser als jeder Zwang. … Man muss die Gelegenheit beim Schopfe packen, und jetzt ist so eine Gelegenheit. 70
Die Hindernisse, die einem roten Kapitalismus entgegenstanden, zerbröckelten. Als Mao und Nixon sich Anfang der 1970er Jahre getroffen hatten, war der durchschnittliche amerikanische Arbeiter beinahe um das Zwanzigfache produktiver als der durchschnittliche Arbeiter in einem unterkapitalisierten chinesischen Betrieb, und die USA hatten einen Anteil von 22 Prozent an der globalen Warenproduktion, China hingegen nur von fünf Prozent. In den folgenden 30 Jahren stieg die amerikanische Produktivität zwar weiter, doch durch Investitionen schoss die chinesische dreimal so schnell in die Höhe. Im Jahr 2000 waren amerikanische Arbeiter um weniger als das Siebenfache produktiver als chinesische. Der Anteil der USA an der Weltproduktion hatte sich kaum verändert und lag bei 21 Prozent, aber der Anteil Chinas hatte sich auf 14 Prozent verdreifacht.
China bezahlte einen schrecklichen Preis für dieses Wachstum. Praktisch unregulierte Fabriken
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