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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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Determiniertheit und davon überzeugt, dass die Unterlegenheit des Ostens seit Jahrhunderten in Stein gemeißelt sei. Die Antwort, so folgerte er, bestand darin, die »Vier Alten« – alte Sitten, alte Gewohnheiten, alte Kulturen und altes Denken – hinwegzufegen. Selbst die Familie musste weichen: »Die liebsten Menschen auf der Welt sind unsere Eltern«, erläuterte eine chinesische Jugendzeitung, »aber sie lassen sich nicht mit dem Vorsitzenden Mao und der Kommunistischen Partei vergleichen …, die uns alles gegeben hat.« 56 Beim »Großen Sprung nach vorn«, mit dem er den Westen einholen wollte, steckte Mao 99 Prozent der Bevölkerung in Volkskommunen mit mehreren tausend Mitgliedern. In so manchem dieser Produktionskollektive lief der Utopismus Amok:
     
    Der Parteisekretär der Stadt Paoma gab im Oktober 1958 bekannt, dass der Sozialismus am 7. November enden und der Kommunismus am 8. November beginnen würde. Nach der Versammlung strömten alle sofort auf die Straßen und fingen an, sich Waren aus den Läden zu schnappen. Als die Regale leer waren, gingen sie in die Häuser anderer Leute und nahmen deren Hühner und Gemüse zum Essen mit nach Hause. Die Leute hörten sogar auf, zu unterscheiden, welches Kind zu wem gehörte. Nur Ehefrauen blieben vor einem allgemeinen Zugriff bewahrt, weil sich der Parteisekretär in dieser Sache unsicher war. 57
     
    Andernorts herrschte Zynismus vor. Einige nannten es die Iss-alles-auf-Periode: Jedes Anreizes beraubt, arbeiten zu gehen oder zu sparen, verzichteten viele Leute auf beides.
    Die Parteifunktionäre beugten sich dem Druck von oben und wiesen immer größere Ernteerträge aus. Dabei sanken diese Erträge in Wirklichkeit, weshalb die Funktionäre dazu übergingen, immer größere Anteile zu konfiszieren, um ihre Zahlen zu rechtfertigen. »Es ist nicht so, dass es keine Nahrung gibt«, beharrte ein Kommissar. »Es gibt eine Menge Getreide, aber 90 Prozent der Menschen haben ideologische Probleme.« 58
    Zu allem Übel entzweite sich Mao auch noch mit Chruschtschow. Von sowjetischer |525| Hilfe abgeschnitten, versuchte er, das Niveau der westlichen Stahlproduktion zu erreichen, indem er 40 Millionen Bauern vom Land abzog, um in Hinterhöfen Volkshochöfen zu bauen. In denen wurde dann zur Herstellung hausgemachten Stahls geschmolzen, was immer sich vor Ort an Eisenerz auftreiben ließ, sogar Töpfe und Pfannen. Wenig von dem, was dort produziert wurde, war verwendbar, doch niemand wagte es auszusprechen.
    Das Leben auf dem Land wurde zunehmend surreal. »Helle, aus einem Lautsprecher über dem Gelände tönende Melodien lokaler Opern erfüllen die Luft«, berichtete ein Reporter, »begleitet von dem Gesumm der Gebläse, dem Keuchen von Benzinmotoren, dem Hupen schwerbeladener Lastwagen und dem Gebrüll der Erz und Kohle ziehenden Rinder.« 59
    »Der Kommunismus ist das Paradies«, sollten die Bauern singen. »Die Volkskommunen sind die Brücke dorthin.« 60 Es war jedoch ein Paradies voller Drangsal und Ungemach. Wenn das Volk nicht gerade sang, hungerte es. Ein Informant berichtete:
     
    Das Schlimmste, das während der Hungersnot geschah, ist dies: Eltern fällten den Entschluss, die Alten und Kleinen zuerst sterben zu lassen. … Eine Mutter sagte dann zu ihrer Tochter: »Du musst gehen und deine Oma im Himmel besuchen.« Sie hörten auf, dem Mädchen zu essen zu geben, sie gaben ihm nur noch Wasser. … Eine Frau wurde angezeigt und vom Amt für Öffentliche Sicherheit verhaftet. Niemand im Dorf kritisierte sie, als sie ein paar Jahre später aus einem Arbeitslager zurückkehrte. 61
     
    Zwischen 1958 und 1962 verhungerten etwa 20 Millionen Chinesen (die düstersten Schätzungen belaufen sich sogar auf über 40 Millionen Tote). Nach Maos Tod kam das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas offiziell zu dem Schluss, dass der große Steuermann zu 70 Prozent Recht und zu 30 Prozent Unrecht gehabt hatte, aber um 1960 hätten viele hohe Parteikader die Anteile von Recht und Unrecht gewiss umgekehrt gewichtet. Eine Gruppe von Technokraten umging Mao und führte in gewissem Umfang wieder Privateigentum ein. Bis 1965 hatten die Ernten wieder das Niveau von 1957 erreicht.
    Mao war jedoch nicht geschlagen. Nach dem Krieg hatte China, wie der Westen, einen Babyboom erlebt. Diese Kinder waren mittlerweile zu einer riesigen Kohorte ungeduldiger Teenager herangereift. Wohlhabende Jugendliche im liberalen westlichen Kerngebiet verwandten ihre Energie (und ihre

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