Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
psychologische Experimente, in denen Probanden unterschiedlicher Herkunft gebeten wurden, dieselben Aufgaben zu lösen. Im Magnetresonanztomographen zeigte sich, dass bei europäischen Probanden die Stirn- und Scheitellappen im Gehirn dann heller leuchteten (was anzeigt, dass die Aufgabe den Probanden eine größere Anstrengung abverlangt), wenn zur Lösung einer Aufgabe Informationen im Rahmen eines größeren Kontexts und nicht bloß isolierte Fakten verarbeitet werden mussten. Bei asiatischen Probanden verhielt es sich genau umgekehrt.
Was bedeutet dieser Unterschied? Fakten aus ihrem Kontext zu lösen und für sich zu betrachten, gehört zu den wichtigsten Kennzeichen der modernen Wissenschaft (wie die
Ceteris-paribus -Klausel
belegt). Vielleicht, so lautet eine These, zeigt sich in der unterschiedlichen Hirntätigkeit, dass Europäer einfach logischer und wissenschaftlicher denken als Asiaten.
Vielleicht aber auch nicht. Die Experimente beweisen schließlich nicht, dass Asiaten
unfähig
wären, Fakten aus ihrem Umfeld losgelöst zu betrachten, oder dass es Europäern
unmöglich
wäre, Dinge in ihrem Zusammenhang zu sehen. Sie |546| zeigen lediglich, dass jede Gruppe gewohnt ist, auf eine bestimmte Weise zu denken, und sich darum anstrengen muss, um die jeweilige Denkgewohnheit abzuschütteln. Beide Gruppen sind sehr wohl in der Lage, die eine wie die andere Aufgabe zu lösen, was sie auch alltagspraktisch immer wieder unter Beweis stellen.
Zu jeder Zeit und in jedem Land hat es Rationalisten und Mystiker gegeben – solche, die vom Detail abstrahieren, und solche, die im Komplexen schwelgen – und ein paar wenige, die beides tun. Was unterschiedlich ist, sind lediglich die Herausforderungen, die sich ihnen stellen. Als die Europäer um 1600 anfingen, die atlantische Wirtschaft zu entwickeln, handelten sie sich damit auch Probleme ein, die sich am besten mithilfe mechanischer und wissenschaftlicher Modelle der Wirklichkeit lösen ließen. Diese Modelle etablierten sich in den folgenden vier Jahrhunderten zunehmend als westlicher Denkstandard. Im Osten, wo die Probleme, wie sie die atlantische Wirtschaft im Westen produziert hatte, bis weit ins 19. Jahrhundert hinein keine wesentliche Rolle spielten, ist dieser Prozess noch nicht so weit fortgeschritten.
Noch in den 1960er Jahren waren westliche Soziologen davon überzeugt, dass die Kultur des Ostens – und insbesondere der Konfuzianismus – die Entwicklung des unternehmerischen Konkurrenz- und Innovationsgeistes blockiert habe, ohne die wirtschaftlicher Erfolg nicht möglich sei. Als der wirtschaftliche Erfolg Japans in den 1980er Jahren nicht mehr zu ignorieren war, kam eine neue Generation von Soziologen zu dem Schluss, dass es ausgerechnet konfuzianische Prinzipen wie Autoritätsdenken und Aufopferung für die Gruppe seien, die den Erfolg der Japaner erklären würden. Vernünftiger wäre vielleicht die Schlussfolgerung, dass die Menschen ihre Kultur den jeweiligen Anforderungen der gesellschaftlichen Entwicklung anpassen. Schließlich haben sich im ausgehenden 20. Jahrhundert den altbekannten liberalen auch konfuzianische und kommunistische Kapitalisten hinzugesellt.
Die These, der zufolge wir das Denken bekommen, das wir brauchen, würde auch ein anderes Phänomen erklären, das in der Psychologie als Flynn-Effekt bezeichnet wird. Seit es IQ-Tests gibt, steigen deren Durchschnittsergebnisse ständig an (um etwa drei Punkte pro Jahrzehnt). Es wäre erfreulich, wenn das heißen würde, dass wir immer intelligenter werden, aber wahrscheinlicher ist, dass wir nur das moderne, analytische Denken, das in diesen Tests gemessen wird, immer besser beherrschen. Modernes Denken wird eher geschult, wenn wir Bücher lesen, als wenn wir Geschichten erzählen, und offenbar fördern Computerspiele (sehr zum Entsetzen mancher Pädagogen) das moderne Denken noch stärker.
Sicher trifft es zu, dass nicht alle Kulturen in gleicher Weise auf die sich verändernden Verhältnisse reagieren. Die islamische Welt hat beispielsweise erstaunlich wenige Demokratien, nobelpreisgekrönte Wissenschaftler oder moderne diversifizierte Volkswirtschaften hervorgebracht. Daraus folgern manche Nicht-Muslime, der Islam müsse ein umnachteter Glaube sein, der seine Anhänger zu Millionen im Sumpf des Aberglaubens versinken lässt. Aber wenn das |547| stimmen würde, ließe sich kaum erklären, warum viele der hervorragendsten Wissenschaftler, Philosophen und Techniker vor 1000 Jahren
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