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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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Jahrhundert vermutlich gegeneinander in den Krieg gezogen, statt gegen muslimische Eroberer zu kämpfen. Vielleicht hätte sich ohne Mohammed die gesellschaftliche Entwicklung im Westen nach 750 schneller erholt, vielleicht auch nicht. So oder so hätte es Jahrhunderte gedauert, bis der Westen wieder auf gleicher Stufe mit dem Osten gewesen wäre. Das Kerngebiet des Westens wäre weiterhin im östlichen Mittelmeerraum verblieben und erst im 11. Jahrhundert von den Osmanen, dann im 13. (und noch einmal um 1400) von den Mongolen |543| beherrscht worden. Erst im 15. Jahrhundert hätte sich die Kernregion in westlicher Richtung nach Italien und später zum Atlantik hin verlagert. Hätte Mohammed weniger exzentrisch agiert, würden die Gläubigen von Marokko bis Malaysia heute vielleicht nicht unter dem Halbmond, sondern unter dem Kreuz beten – gewiss keine Nebensächlichkeit. Aber es gibt keinen vernünftigen Grund zu bezweifeln, dass die Europäer auch so den amerikanischen Doppelkontinent erobert oder die Vorrangstellung in der Welt übernommen hätten.
    Was für Mohammed gilt, trifft wahrscheinlich noch mehr auf die anderen großen Männer zu, die uns in diesem Buch begegnet sind. Der assyrische König Tiglat-Pileser III. und Qin Shihuangdi, der »Erste Erhabene Gottkaiser von Qin«, begründeten mächtige antike High-End-Staaten. Im 16. Jahrhundert scheiterten die Habsburger in Europa und Toyotomi Hideyoshi in Japan in ihren Bemühungen, große Landmächte zu bilden. Nach der Glorreichen Revolution 1688 in England und nach dem Tod Mao Zedongs 1976 in China übernahm hier wie da eine Gruppe von Reformpolitikern das Ruder. Aber keiner dieser großen Männer oder, wie man es sieht, vertrottelten Stümper erreichte mehr, als einen Prozess, der bereits im Gange war, zu beschleunigen oder zu bremsen. Keiner schaffte es, die Geschichte in eine vollkommen neue Richtung zu zwingen. Selbst Mao, dem vermutlich größenwahnsinnigsten Herrscher von allen, gelang es lediglich, den industriellen Senkrechtstart Chinas aufzuschieben, sodass schließlich Deng Xiaoping die Lorbeeren einheimsen und als derjenige in die Geschichte eingehen konnte, der Chinas Kehrtwende vollbracht hatte. Wenn wir die Geschichte noch einmal ablaufen lassen könnten wie ein Experiment im wissenschaftlichen Labor und wenn wir dabei alles unverändert ließen und nur die vertrottelten Stümper gegen die großen Männer austauschen würden (und umgekehrt) – die Dinge würden wohl doch so ziemlich auf dasselbe hinauslaufen, wenn auch vielleicht in einem etwas anderen Tempo. Große Männer (und Frauen) gefallen sich offensichtlich in der Vorstellung, sie könnten allein qua Willenskraft die Welt verändern, aber hier irren sie.
    Dies gilt innerhalb wie außerhalb des politischen Geschehens. Matthew Boulton und James Watt beispielsweise waren zweifellos große Männer, Letzterer als Erfinder und Ersterer als Vermarkter von Maschinen, die tatsächlich die Welt verändert haben. Aber sie waren als große Männer nicht
einzigartig
, genauso wenig wie Alexander Graham Bell, als er am 14. Februar 1876 ein Patent für sein gerade erfundenes Telefon anmeldete – just an dem Tag, an dem auch Elisha Gray ein Patent für
sein
gerade erfundenes Telefon einreichte. Boulton und Watt waren auch nicht einzigartiger als ihr gemeinsamer Bekannter Joseph Priestley, der 1774 den Sauerstoff entdeckte. Den hatte allerdings ein schwedischer Apotheker schon ein Jahr vor ihm ebenfalls entdeckt. Und sie waren auch nicht einzigartiger als die vier Europäer, die im Jahr 1611 unabhängig voneinander die Sonnenflecken entdeckt hatten.
    Historiker fragen sich oft, warum viele Entdeckungen der Neuzeit gleich mehrfach gemacht wurden, warum, anders ausgedrückt, mehreren Menschen fast |544| gleichzeitig ein Licht aufging. Bahnbrechende Entdeckungen sind oft weniger die Folge der Genialität von Einzelnen als vielmehr das logische Ergebnis, wenn eine Gruppe kluger Menschen von den gleichen Fragen und Methoden ausgeht. So verhielt es sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts mit den Gelehrten Europas. Als das Teleskop erst einmal erfunden war (ein Verdienst, das neun Männer für sich in Anspruch nahmen), wäre es erstaunlich gewesen, wenn die Sonnenflecken
nicht
prompt von etlichen Astronomen entdeckt worden wären.
    Erstaunlich viele neuzeitliche Entdeckungen wurden mehr als einmal gemacht – ein Phänomen, das für den Statistiker Stephen Stigler sogar Gesetzesrang beanspruchen kann. Stiglers

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