Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
Gesetz zufolge wird keine wissenschaftliche Entdeckung nach ihrem wirklichen Entdecker benannt (die Urheberschaft seines eigenen Gesetzes sprach er folgerichtig dem Soziologen Robert K. Merton zu, der bereits 25 Jahre vor ihm zu ähnlichen Schlüssen gekommen war). Boulton und Watt hatten die Nase vorn vor ihrer Konkurrenz, aber es
gab
diese Konkurrenz, und hätten die beiden in den 1770er Jahren keine relativ leistungsfähige Dampfmaschine auf den Markt gebracht, so hätte es ganz sicher schon bald einer ihrer vielen Konkurrenten getan. Möglicherweise wären Boulton und Watt von diesen sogar überholt worden, hätte sich Watt nicht mit List und Tücke ein Patent erschlichen, das jeglichen Wettbewerb von vornherein ausschaltete.
Große Männer oder Frauen und vertrottelte Stümper sind Produkte ihrer Zeiten. Sollten wir demzufolge davon ausgehen, dass nicht einzelne Persönlichkeiten den Verlauf der Geschichte bestimmen, sondern dass es der Geist der jeweiligen Epoche ist, der Bedingungen schafft, unter denen sich entweder Größe entfalten oder eine Kultur der Stümperhaftigkeit entstehen kann? Manche Historiker sehen beispielsweise den Grund für die Vorrangstellung des Westens darin, dass sich die chinesische Kultur im 14. Jahrhundert nach innen kehrte und von der Welt abwandte, während sich die europäische Kultur nach außen öffnete und Entdecker veranlasste, über die Weltmeere zu segeln, bis sie an die Küste des amerikanischen Doppelkontinents gespült wurden.
In Kapitel 8 habe ich mich ausführlich mit diesem Gedanken auseinandergesetzt und festgestellt, dass er sich nicht sonderlich gut mit den Tatsachen vereinbaren lässt. Kultur ist keine Stimme im Kopf, die uns sagt, was zu tun ist, sie ist vielmehr ein Gemeindesaal, in dem wir über die Möglichkeiten, die sich bieten, diskutieren. Jede Zeit bekommt die Denkart, die sie braucht, entsprechend den Problemen, die die geographischen Bedingungen und die gesellschaftliche Entwicklung ihr aufzwingen.
Das würde erklären, warum die Geschichte des Denkens im Osten und im Westen in den letzten 5000 Jahren einen weitgehend übereinstimmenden Verlauf genommen hat. Als sich in den beiden Kerngebieten die ersten Staaten herausbildeten (um 3500 v. u. Z. im Westen, um 2000 v. u. Z. im Osten), warf dies Fragen über das Wesen und die Grenzen göttlicher Herrschaft auf. Als die Staaten in beiden Kerngebieten einen effektiveren Verwaltungsapparat aufbauten (nach 750 |545| v. u. Z. im Westen, um 500 v. u. Z. im Osten), mündeten diese Fragen im Denken der ersten Achsenzeit, das von der Frage nach dem Wesen der menschlichen Transzendenz und deren Beziehung zur weltlichen Autorität bestimmt war. Um 200 u. Z., als sowohl dem Han-Reich als auch dem Römischen Reich der Untergang drohte, trat an die Stelle dieser Frage wiederum das Denken der zweiten Achsenzeit, in dem die Frage, wie institutionalisierte Kirchen ihre Gläubigen in einer chaotischen und bedrohlichen Welt retten könnten, im Mittelpunkt des Interesses stand. Und als sich die gesellschaftliche Entwicklung wieder belebte (um 1000 in China, um 1400 in Italien), erblühte die Suchbewegung der Renaissance, der es darum ging, die enttäuschende jüngere Vergangenheit zu überspringen und sich auf die verlorene Weisheit der ersten Achsenzeit rückzubesinnen.
Im Osten und im Westen entwickelte sich das Denken deshalb so lange nahezu parallel, weil es für beide nur einen Pfad zu einer höheren gesellschaftlichen Entwicklung gab. Um die Obergrenze von 24 Punkten zu durchbrechen, musste die Macht der Staaten gleichermaßen zentralisiert werden, was unweigerlich im Denken der ersten Achsenzeit mündete. Der Niedergang dieser Staaten führte ebenso unweigerlich zum Denken der zweiten Achsenzeit, ihr Wiederaufblühen zu einer Renaissance. Jede grundlegende Veränderung brachte die Menschen dazu, die Gedanken zu entwickeln, die für ihre Zeit gebraucht wurden.
Wie aber steht es um den großen Scheidepunkt um 1600, als sich in Westeuropa das wissenschaftliche Denken durchsetzte, im Osten (und in den Regionen Europas, die abseits des neuen Kerngebiets um die Atlantikküste lagen) hingegen nicht? Zeigt sich auch darin, dass jede Zeit eben die Gedanken bekommt, die sie braucht? Oder spiegeln sich in dieser epochalen Abweichung des Denkens nicht vielmehr die kulturellen Unterschiede zwischen den Menschen des Ostens und denen des Westens?
Es gibt westliche Soziologen, die davon überzeugt sind. Sie verweisen auf
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