Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
Wirtschaft angekurbelt sowie die wissenschaftliche Revolution ausgelöst.
Andererseits hätte es den Habsburgern auch erheblich schlechter ergehen können, als es in Wahrheit der Fall war. Hätten die Osmanen dem schiitischen Persien |550| eine gründlichere Niederlage bereitet, so wäre es ihnen 1529 vielleicht gelungen, Wien zu erobern. Dann würden heute Minarette in den englischen Himmel ragen und in Oxford Auslegungen des Korans gelehrt. Bei einem Sieg der Türken hätte sich das Machtzentrum des Westens möglicherweise nicht aus dem Mittelmeerraum weg verlagert. Ob dann die atlantische Wirtschaft verkümmert oder aber gerade deshalb die atlantische Welt aufgeblüht wäre? – Lassen wir die Frage einfach offen. Ein anderes Szenario: Hätten sich Osmanen und Russen im 17. Jahrhundert nachdrücklicher bekriegt, wären sie möglicherweise zu geschwächt aus den Kämpfen hervorgegangen, um den Steppengürtel im Westen gegen die Nomadenvölker abzusperren. In diesem Fall hätten die Siege des Qing-Reiches im 17. und 18. Jahrhundert vielleicht dazu geführt, dass die Mongolen nach Europa verdrängt worden wären und die westliche Krise des 17. Jahrhunderts sich zu etwas so Finsterem ausgewachsen hätte wie die letzten Tage von Rom. Wäre der Westen von Neuem in einem dunklen Zeitalter versunken, so hätte die gesellschaftliche Entwicklung im Osten im Verlauf einiger Jahrhunderte vielleicht die starre Obergrenze erreicht und China hätte seine eigene wissenschaftliche und industrielle Revolution erlebt. Wer weiß? Jedenfalls war, so viel steht fest, um 1500 die Wahrscheinlichkeit, dass der Westen 2000 die Welt regieren würde, sehr viel geringer als 150 Jahre später – nicht viel höher als fifty-fifty vielleicht.
Weitere 150 Jahre früher, wir befinden uns im Jahr 1350, inmitten der dunklen Tage des Schwarzen Todes. Aus der Perspektive dieser Zeit wäre eine Vorherrschaft des Westens um 2000 eher unwahrscheinlich gewesen. Der unberechenbarste Joker der nahen Zukunft war Tamerlan, der mongolische Eroberer, der, aus Zentralasien hervorbrechend, mit seinen Horden Indien und Persien unterwarf und 1402 das Osmanische Reich zerschlug. An diesem Punkt beschloss Tamerlan, sich nach Osten zu wenden, um am chinesischen Kaiser Rache für irgendeine ihm zugefügte Schmach zu üben, starb aber, bevor er sein Ziel erreicht hatte. Wäre er stattdessen nach 1402 weiter westwärts gezogen, so hätte er möglicherweise Italien vernichtend geschlagen, die dort aufkeimende Renaissance verhindert und den Westen in seiner Entwicklung um Jahrhunderte zurückgeworfen. Hätte er andererseits, anstatt das Zeitliche zu segnen, seinen Feldzug gegen China fortgesetzt, so wäre er vielleicht in die Fußstapfen des Eroberers Kublai Khan getreten und hätte die Entwicklung im Osten (und nicht im Westen) um Jahrhunderte verzögert.
Es gibt unendlich viele andere Möglichkeiten, wie die Dinge hätten laufen können. Hongwu, der Gründer der Ming-Dynastie, hätte ohne weiteres an seinem Vorhaben scheitern können, China nach den Bürgerkriegen wieder zu vereinen. Dann hätte das östliche Kerngebiet des 15. Jahrhunderts statt eines mächtigen Reiches eine Vielzahl kleinerer, untereinander zerstrittener Staaten umfasst. Wer weiß, welche Folgen das gehabt hätte. Vielleicht hätte Chaos geherrscht, aber ohne das autokratische Diktat der Ming-Herrschaft hätte sich vielleicht ein regerer Seehandel entwickelt. Ich habe in Kapitel 8 erläutert, warum im Osten während der |551| Ming-Herrschaft kaum so etwas wie die spätere atlantische Wirtschaft des Westens hätte entstehen können – die geographischen Bedingungen sprachen einfach dagegen –, aber ohne die Ming-Kaiser wäre es Kolonisten und Kaufleuten vielleicht gelungen, in Südostasien und auf den Gewürzinseln eine bescheidenere Variante einer solchen Wirtschaft zu etablieren. Das Fazit lautet jedoch: Mitte des 14. Jahrhunderts war der Ausgang der Entwicklung noch weniger klar als um 1500. Dass der Westen 2000 die Welt regieren würde, war nur eine von vielen Möglichkeiten, die Wahrscheinlichkeit betrug vermutlich nicht mehr als 25 Prozent.
Das Was-wäre-wenn-Spiel macht Spaß, und ich könnte es endlos fortsetzen. Aber es ist klar, worauf ich hinaus will. Ob der Westen 2000 die Welt regieren würde, war keine Frage der Determiniertheit oder des Zufalls, sondern es war eine Sache von Wahrscheinlichkeiten, und je weiter wir in der Zeit zurückgehen, umso mehr Joker kommen ins Spiel. Um 1800
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