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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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der Senkrechtstart der Briten weniger rasant verlaufen oder die industrielle Revolution hätte sich – wie ich in Kapitel 10 beschrieben habe – nach Nordfrankreich verlagert. Der Möglichkeiten gibt es viele. Allerdings lässt sich kaum ausmalen, was nach 1800 noch hätte passieren müssen, um die industrielle Revolution im Westen gänzlich zu verhindern. Und ebenso schwer ist es sich vorzustellen, was die Globalisierung der Märkte hätte aufhalten können, als die Industrialisierung erst einmal in Gang gebracht war. »Es ist … sinnlos«, tönte Lord Macartney, als die chinesische Regierung seine Handelsmission 1793 entschieden zurückwies, »den Fortschritt des menschlichen Wissens aufhalten zu wollen.« 2 Das klingt zwar hochtrabend, aber ganz Unrecht hatte er nicht.
    Wir können die Karten zuungunsten des Westens mischen, wie wir wollen, wir können uns beispielsweise vorstellen, die industrielle Revolution hätte erst 100 Jahre später eingesetzt und bis zum 20. Jahrhundert wäre es zu keiner nennenswerten Erweiterung der europäischen Kolonialreiche gekommen – es spricht dennoch kein vernünftiger Grund dafür, dass es vorher im Osten zu einer eigenen industriellen Revolution hätte kommen können. Dies hätte vorausgesetzt, dass sich im Osten eine ähnlich diversifizierte Wirtschaft entwickelt hätte, wie es sie im Westen mit der atlantischen Wirtschaft bereits gab. Und um eine solche aufzubauen, wären Jahrhunderte vonnöten gewesen. Dass der Westen 2000 die Welt |549| regieren würde, war 1800 nicht festgeschrieben, war nicht hundertprozentig sicher, aber mindestens 95 Prozent werden es wohl gewesen sein.
    Wenn wir nun weitere 150 Jahre zurückgehen bis in die Zeit um 1650, als Newton noch ein Kind war, so war damals die Wahrscheinlichkeit, dass der Westen 2000 die Welt regieren würde, weniger hoch, aber immer noch beträchtlich. Mit Feuerwaffen wurde der Steppengürtel abgeriegelt, mit Schiffen die atlantische Wirtschaft begründet. An Industrialisierung war im Traum noch nicht zu denken, aber die Voraussetzungen dafür wurden in Westeuropa bereits geschaffen. Hätten die Holländer Mitte des 17. Jahrhunderts ihre Kriege gegen England gewonnen, wäre die von Holland unterstützte Glorreiche Revolution 1688 gescheitert oder wäre der geplante Einfall der Franzosen in England 1698 tatsächlich erfolgreich gewesen, so wären die Bedingungen, die Boulton und Watt begünstigten, nie eingetreten. Und in diesem Fall hätte sich die industrielle Revolution um Jahrzehnte verzögert oder anderswo in Westeuropa stattgefunden. Aber auch hier ist schwer vorstellbar, was nach 1650 noch hätte passieren müssen, um sie gänzlich zu verhindern. Wäre die Industrialisierung im Westen schleppender verlaufen und hätten die Qing-Kaiser andere Entscheidungen getroffen, so hätte sich die Wissenschaft in China im 17. und 18. Jahrhundert möglicherweise ähnlich schnell entwickelt wie in Europa, aber damit die Industrialisierung im Osten vor dem Westen hätte einsetzen könne, wäre einiges mehr vonnöten gewesen. Dass der Westen 2000 die Welt regieren würde, war 1650 weniger sicher vorhersagbar als 150 Jahre später, aber die Wahrscheinlichkeit war auch damals schon relativ hoch – sie lag vermutlich bei 80 Prozent.
    Noch einmal 150 Jahre früher, um 1500 also, lag die zukünftige Entwicklung noch mehr im Dunkeln. Mit seinen Schiffen konnte der Westen die Neue Welt ansteuern, aber er war vor allem daran interessiert, diese auszuplündern. Wären die Habsburger noch stärker vom Glück begünstigt gewesen, als sie es ohnehin schon waren (hätte beispielsweise Luther nie das Licht der Welt erblickt oder hätte Karl V. nicht die Reichsacht gegen ihn verhängt oder hätte die spanische Armada 1588 den Sieg über England errungen, woraufhin der holländische Aufstand vermutlich eingebrochen wäre), so wären sie vielleicht zum Hirten aller christlichen Lämmer geworden. In diesem Fall hätte die spanische Inquisition radikale Stimmen wie die von Newton und Descartes zum Schweigen gebracht; auch wäre wohl der holländische, britische und französische Handel wie der spanische zuvor durch willkürliche Steuerbelastungen zerschlagen worden. Das sind ziemlich wüste Spekulationen, und alles spricht dafür, dass ein die gesamte Christenheit umfassendes Habsburgerreich heftige Nebeneffekte gezeitigt hätte: Es hätten noch mehr Puritaner den Atlantik überquert, sie hätten noch mehr Städte errichtet und von dort aus die

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