Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
war es sehr unwahrscheinlich, dass sich die Vorherrschaft des Westens durch irgendwelche Entscheidungen, kulturelle Entwicklungen oder unverhoffte Ereignisse noch hätte aufhalten lassen; um 1350 wäre dies ohne weiteres denkbar gewesen. Andererseits ist schwer vorstellbar, welche Ereignisse nach 1350 hätten bewirken können, dass die Industrialisierung zuerst im Osten statt im Westen oder sogar überhaupt nicht stattgefunden hätte.
Um eine Vergangenheit zu konstruieren, in der eine Vorherrschaft des Ostens um 2000 denkbar gewesen wäre, müssen wir ganze neun Jahrhunderte zurückkehren, nämlich ins Jahr 1100. Hätte der Song-Kaiser Huizong zu diesem Zeitpunkt die Jurchen besser eingeschätzt und Kaifeng 1127 vor der Eroberung bewahrt oder wäre der kleine Temüdschin tatsächlich von seinen Eltern in der Steppe vergessen worden und gestorben, anstatt heranzuwachsen und Dschingis Khan zu werden – wer weiß, was passiert wäre. Die schieren Entfernungen und auch die verfügbaren Seefahrttechniken verhinderten vermutlich, dass sich eine pazifische Version des Weges entwickeln konnte, der in Europa im 18. Jahrhundert über die atlantische Wirtschaft zur Industrialisierung geführt hat. Aber es hätte mit anderen Mitteln eine ähnliche Wirtschaft entstehen können. Wäre China die Eroberung durch Jurchen und Mongolen erspart geblieben, so wäre die dortige Renaissance vielleicht zu einer wissenschaftlichen Revolution erblüht, statt sich auf gefällige Selbstbetrachtung und aufs Füßebinden zu beschränken. Dann hätten der Bedarf von Millionen chinesischer Untertanen, der Handel zwischen einem bäuerlichen Süden und einem handwerklich geprägten Norden sowie die Kolonisierung in Südostasien vielleicht den Ausschlag gegeben. Vielleicht aber eben auch nicht. Solange China nicht über Waffen und Armeen verfügte, um die Steppen abzuriegeln, konnte es gegen das zerstörerische Eindringen von Nomaden wenig ausrichten. Wahrscheinlich ist es zu optimistisch, davon auszugehen, dass die Mandarine endlos mit so vielen Bällen gleichzeitig hätten jonglieren können. Die Liste der Wahrscheinlichkeiten, die im 12. Jahrhundert gegen ein Abheben Chinas sprachen, ist vermutlich sehr lang.
|552| Wenn wir nun ein letztes Mal die Reise in die Vergangenheit antreten und uns noch einmal 1000 Jahre vor die Song-Zeit zurückversetzen lassen, lautet die große Frage wieder anders. Wir müssen nun nicht mehr fragen, ob es möglich wäre, dass der Osten bis 2000 die Vorherrschaft in der Welt errungen haben könnte, sondern ob das Römische Reich 1700 Jahre früher die starre Obergrenze der gesellschaftlichen Entwicklung hätte durchbrechen können, als es der Westen dann tatsächlich getan hat. Ich sehe, offen gesagt, keine Möglichkeit, wie das hätte der Fall sein können. Rom hätte dies nicht nur ohne die Grundlage einer atlantischen Wirtschaft zuwege bringen, sondern auch noch mit sehr viel Glück den fünf apokalyptischen Reitern entkommen müssen. Nach dem Fall des Han-Reiches im 3. Jahrhundert dümpelte das Römische Reich noch 200 Jahre geschwächt vor sich hin, bevor es im 5. Jahrhundert endgültig zusammenbrach. Sicher hätte Rom auch die Möglichkeit gehabt, die Goten und ihre germanischen Verwandten irgendwie zurückzuschlagen und weiter vor sich hinzuwursteln, aber wie hätte es dann die Krise des 7. Jahrhunderts bewältigen sollen? Und selbst wenn das Römische Reich in irgendeiner Form überlebt hätte, was hätte es dann der lang anhaltenden Abwärtsbewegung der gesellschaftlichen Entwicklung im Westen entgegenzusetzen gehabt? Ein wirtschaftlicher Durchbruch war für das Römische Reich um das Jahr 100 u. Z. noch unrealistischer als für das Song-Reich nach 1100.
All das führt uns zu der Erkenntnis, dass die westliche Dominanz um 2000 weder langfristig festgeschrieben noch das Produkt kurzfristiger Zufälle war. Sie ergab sich eher als Folge langfristig gültiger Wahrscheinlichkeiten. Zu keiner Zeit, nicht einmal um 1100, deutete etwas darauf hin, dass der Osten in der Lage sein würde, sich als Erster zu industrialisieren, seine Macht weltweit auszudehnen und aus seiner höheren gesellschaftlichen Entwicklung einen Führungsanspruch abzuleiten, wie dies der Westen später tun sollte. Sehr wahrscheinlich war hingegen, dass irgendwann irgendwer über die Feuerwaffen und die Machtfülle verfügen würde, um die Steppengebiete abzuriegeln, sowie über die Schiffe und Märkte, um die Weltmeere zu erschließen. Und wenn
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