Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
subkontinentaler Industriestaat, die Imperialmächte Westeuropas heraus. In den Weltkriegen ging es hauptsächlich um die Frage, wer an die Stelle Westeuropas treten würde. Die USA selbst? Die Sowjetunion, in der die Industrialisierung in den 1930er Jahren durchgepeitscht wurde? Nazideutschland, das in den 1940er Jahren drauf und dran war, ein eigenes Subkontinentalreich zu erobern? Im Osten versuchte Japan in den 1930er und 1940er Jahren, ein Subkontinentalreich an sich zu bringen und zu industrialisieren, um den Westen aus seiner Vormachtstellung zu verdrängen. Nachdem das misslungen war, industrialisierte China sein bereits bestehendes subkontinentales Imperium – in den 1950er und 1960er Jahren mit katastrophalen Auswirkungen und seit den 1980er Jahren mit beeindruckendem Erfolg. Es ist schwer vorstellbar, dass die europäischen Seemächte dieser Konkurrenz auf Dauer standgehalten hätten. Dagegen sprechen allein schon die antikolonialistischen Erhebungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Afrika bis Indochina aufflammten, sowie die – im Vergleich zu den neuen Mächten – stagnierende Bevölkerung und Industrie in Westeuropa.
Hätten sich die europäischen Mächte 1914 und 1939 nicht von den Klippen gestürzt, so hätten ihre Imperien wahrscheinlich länger Bestand gehabt. Hätten sich die USA 1919 nicht ihren globalen Verpflichtungen entzogen, so wären die Imperialreiche möglicherweise noch schneller zerschlagen worden. Hätte Hitler Stalin und Churchill besiegt, so wäre die Geschichte vielleicht anders verlaufen. Vielleicht aber auch nicht. Der Roman
Vaterland
von Robert Harris 3 macht dies auf faszinierende Weise deutlich. Der Thriller spielt im Jahr 1964 in Deutschland, in einem Deutschland allerdings, das, soviel wird schnell klar, den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat. Alles ist auf unheimliche Weise anders. Die Nationalsozialisten haben nicht nur die meisten, sondern alle europäischen Juden ermordet. Hitlers Architekt Albert Speer hat die Träume seines Führers wahr werden lassen und ein neues Berlin aus dem Boden gestampft – im Zentrum eine Siegesallee, die doppelt so lang ist wie die Pariser Champs-Élysées. Sie führt zum größten Prachtbau der Welt, in dem Hitler Reden unter einer Kuppel hält, die so hoch ist, dass sich Wolken darin bilden können. Doch im Laufe der Geschichte entfaltet sich eine Szenerie, die auf noch unheimlichere Weise vertraut ist. Zwischen den USA und dem totalitären Großdeutschland, das vom Rhein bis zum Ural reicht, herrscht Kalter Krieg. Die beiden Großmächte belauern sich gegenseitig misstrauisch hinter ihren aufgereihten Atomraketen, führen Stellvertreterkriege, lassen |555| Vasallenstaaten in der Dritten Welt nach ihrer Pfeife tanzen und tasten sich vorsichtig an eine Annäherung heran. In mancher Hinsicht ist das alles nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt.
Die Weltkriege des 20. Jahrhunderts hätten nur dann einen vollkommen anderen Ausgang nehmen können, wenn sie in einen totalen atomaren Vernichtungskrieg geführt hätten. Hätte Hitler Atombomben gehabt, so hätte er sie wohl auch eingesetzt. Aber zum Glück für die Welt strich er 1942 praktisch das gesamte Atomforschungsprogramm. Damit blieb es den USA überlassen, ungeahndet zwei Atombomben über Japan abzuwerfen. Nachdem auch die Sowjets 1949 versuchsweise ihre erste Atombombe gezündet hatten, rückte die Katastrophe immer mehr in den Bereich des Möglichen. Selbst 1986, als das Wettrüsten seinen Höhepunkt erreicht hatte, brachten sämtliche atomaren Sprengköpfe der Welt zusammengenommen nur ein Achtel der Zerstörungskraft eines drei Kilometer großen Asteroiden auf, aber das war immer noch genug, um die Zivilisation der Gegenwart auszulöschen
Es ist kaum zu glauben, dass es Menschen gibt, die – wie der Vorsitzende Mao – in der Lage sind, vollkommen gleichmütig über die Möglichkeit eines Atomkrieges zu philosophieren. »Lasst uns überlegen«, sagte er 1957 auf der Moskauer Weltkonferenz, zu der sich die Staatsoberhäupter und Parteiführer der kommunistischen Welt versammelt hatten, »wie viele Menschen sterben werden, wenn ein Krieg ausbricht.« Und er fuhr fort:
Wenn das Schlimmste zum Schlimmen käme und die Hälfte der Menschheit stürbe, bliebe doch die andere Hälfte, während der Imperialismus bis auf den Grund ausgetilgt wäre und die ganze Menschheit sozialistisch werden würde; in einer gewissen Zahl von Jahren würde es wieder 2,7 Milliarden Menschen geben
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