Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
hindurch den Gedanken vertreten, dass große Männer oder Frauen ebensowenig wie große Stümper und Idioten die entscheidende Rolle gespielt haben, die zu spielen sie glaubten. Sie haben den Lauf der Geschichte kaum geändert, sie haben allenfalls die Prozesse beschleunigen oder bremsen können, die dem Geschichtsverlauf als Muster zugrunde liegen. Seit 1945 jedoch ist das anders. Jetzt haben die politischen Führer die reale Möglichkeit, tief in die Geschichte einzugreifen. Chruschtschow und Kennedy waren dem 1962 sehr nahe. Atomwaffen lassen keinen Raum mehr für Irrtum und Fehlentscheidung, es gibt keine zweite Chance. Ein falsches Kommando kann heute das Ende der Welt bewirken. Das erste Mal in der Geschichte kommt es wirklich auf die Führung an. Wir können nur hoffen, dass unser Zeitalter, wie die meisten zuvor auch, die Gedanken entwickelt, die es braucht.
Und langfristig?
In langfristiger Perspektive scheint mir nur eine Voraussage verlässlich zu sein: Weder die Weltendämmerung noch die Singularität wird das Große Rennen gewinnen – einfach weil es keine Ziellinie gibt. Wenn wir 2045 erreichen (der von |589| Kurzweil angenommene Zeitpunkt für das Eintreten der Singularität, zugleich, nach Schklowski und Sagan, der späteste Eintritt der Weltendämmerung), werden wir weder das Ende der Geschichte noch einen Sieger zu verkünden haben. Ich gehe davon aus, dass es uns Mitte dieses Jahrhunderts noch immer gelingt, die Gefahr einer Weltendämmerung zu bannen, und dass die gesellschaftliche Entwicklung über die 2000-Punkte-Marke schießt. In diesem Fall wird die Singularität das Große Rennen weniger beenden als vielmehr unterwegs dessen Wettkampfregeln verändern – indem sie vor allem die Gattung Mensch verändern wird.
In einem äonenübergreifenden Blickwinkel stellt es sich so dar, dass die Bedrohungen, die uns heute in Schrecken versetzen, eine Menge gemeinsam haben mit den Kräften, die in früheren Zeiten wiederholt die Evolution beschleunigt haben. Immer wieder haben einigermaßen plötzliche Umweltveränderungen zu Bedingungen geführt, unter denen sich neue Mutationen besser durchsetzen konnten. Vor etwa 1,8 Millionen Jahren hat es das Austrocknen ostafrikanischer Wälder den Freaks mit den größeren Gehirnen erlaubt, besser zurechtzukommen als
Homo habilis
. Und vor rund 100 000 Jahren hat wahrscheinlich gerade eine besonders harte Phase der Eiszeit
Homo sapiens
die Chance verschafft, sich zu bewähren. Und nun, im 21. Jahrhundert, könnte sich etwas Ähnliches ereignen.
Eine massenhafte Auslöschung findet bereits statt. Etwa alle 20 Minuten verschwindet eine Pflanzen- oder Landtierart. Eine 2004 vorgelegte Studie geht davon aus, dass im besten Fall bis 2050 etwa neun Prozent der weltweit zehn Millionen Pflanzen- und Landtierarten ausgestorben sein werden. Manche Biologen erwarten für denselben Zeitraum eine Schrumpfung der Biodiversität um ein Drittel bis gar um die Hälfte. Mittlerweile ist sogar die Rede von einem sechsten Massenaussterben 3* , das bis 2100 zwei Drittel der Arten ausgelöscht haben wird. Eine dieser Arten könnten die Menschen selbst sein. Was aber, wenn die harten Lebensbedingungen des späteren 21. Jahrhunderts unsere Gattung nicht einfach auslöschen, sondern – wie die Perioden vor 1,8 Millionen oder vor 100 000 Jahren – eher neue Mutationen begünstigen würden? Wenn also der alte
Homo sapiens
in einer neuen Art mit größeren und schnelleren Gehirnen aufginge? Mit Gehirnen, in denen Neuronen und Chips auf jetzt noch ungeahnte Weise verschmolzen wären? Statt uns niederzutrampeln könnten uns die Hufschläge der apokalyptischen Reiter dazu antreiben, aus unseren Trippelschritten Richtung Singularität einen großen Sprung zu machen.
Die Singularität könnte jedoch eine ebensolche Gruselgeschichte werden wie die Weltendämmerung. Kurzweils Vision einer Verschmelzung von Menschen und Computern könnte ihrerseits nur eine Zwischenphase sein, bevor das, was |590| wir herablassend »künstliche« Intelligenz nennen,
Homo sapiens
so gründlich ersetzt, wie dieser vor Zeiten alle anderen Affenmenschen ersetzt hat. Eine sich selbst vervollkommnende Singularität wäre das Ende der Biologie, wie wir sie kennen – damit auch das Ende von Faulheit, Angst und Gier als Motoren der Geschichte. Sie erinnern sich an mein Morris-Theorem, dass aller Wandel von faulen, gierigen und furchtsamen Menschen bewirkt wird, die (ohne wirklich zu wissen, was sie tun) nach
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