Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
Vom Netzwerk:
Bedeutung, die sie in der Zeit dazwischen erlangten, war nur ein Nebeneffekt der Bedeutung der geographischen Bedingungen. Wenn die gesellschaftliche Entwicklung von den sechs Indexpunkten, die die frühen Ackerbauern erwirtschaftet haben, durch die ersten postbiologischen Mensch-Maschine-Wesen auf die 5000-Punkte-Marke hinaufgeschossen sein wird – also wohl irgendwann zwischen 2045 und 2103 –, dann wird die Geographie keine große Rolle mehr spielen. Osten und Westen stehen dann für eine Phase, die wir überwunden haben werden.
    Selbst wenn in dem ungleich kürzeren Zeitabschnitt der Neuzeit alles, was man sich vorstellen kann, anders verlaufen wäre – wenn zum Beispiel Zheng He tatsächlich Tenochtitlán eingenommen, wenn sich ein pazifisches und kein atlantisches Wirtschaftssystem entwickelt, wenn es eine chinesische und keine englische industrielle Revolution gegeben hätte, wenn schließlich Albert nach Beijing geraten wäre und nicht Looty nach Balmoral –, selbst dann hätten die tieferen, in Biologie, Soziologie und Geographie verankerten Triebkräfte die Geschichte in ungefähr die gleiche Richtung getrieben. Amerika (oder Zhengland, wie es dann |592| vielleicht heute hieße) wäre zum Teil des östlichen und nicht des westlichen Entwicklungskerns geworden, und dann wäre es jetzt der Westen, der zum Überholmanöver auf den Osten ansetzt. In jedem Fall aber wäre die Welt von »Large« über »Medium« auf »Small« geschrumpft und würde weiter schrumpfen auf »Tiny«. Der Beginn des 21. Jahrhunderts wäre auch dann von Chimerica dominiert worden, und das Rennen zwischen Weltendämmerung und Singularität hätte ebenso begonnen. Am Ende hätten Ost und West wiederum ihre Bedeutung verloren.
    Diese Aussicht sollte uns nicht weiter schockieren. Bereits 1889, als die Welt dabei war, von »Large« auf »Medium« zu schrumpfen, konnte ein junger Dichter namens Rudyard Kipling ein Stück dieser Wahrheit erkennen. Kurz zuvor von weit entfernten Frontlinien nach London zurückgekehrt, gelang Kipling der Durchbruch mit einer spannenden Geschichte imperialer Verwegenheit unter dem Titel
Die Ballade von Ost und West
1* . Erzählt wird die Geschichte von Kamal, einem Räuber im Grenzgebiet, der einem britischen Obersten die Stute stiehlt. Dessen Sohn, selbst Offizier, springt aufs eigene Pferd und setzt Kamal nach, eine episch ausgebreitete Jagd durch die Wüste beginnt. Schließlich aber stürzt der Engländer, Kamal reitet zurück, mit erhobener Flinte. Doch alles wird gut, die beiden Männer stellen fest, dass sie einander vertrauen können.
    Es sind vor allem die ersten Zeilen – »Ost ist Ost und West ist West, und sie kommen niemals zusammen« –, die alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen und oft als Beispiel für die unerträgliche Selbstzufriedenheit des Westens im 19. Jahrhundert zitiert werden. Dabei war es Kipling selbst darum überhaupt nicht zu tun, wie der vollständige Balladenanfang belegt:
     
    Oh, East is East, and West is West, and never the twain shall meet,
    Till Earth and Sky stand presently at God’s great Judgment Seat;
    But there is neither East nor West, Border, nor Breed, nor Birth,
    When two strong men stand face to face,
    tho’ they come from the ends of the earth!
    (Ah, Ost ist Ost und West ist West, und sie kommen niemals zusammen,
    bis Erde und Himmel bald vor Gottes großem Richterstuhl stehen;
    doch gibt es weder Ost noch West noch Grenze, Erziehung, Geburt,
    wenn sich zwei starke Männer gegenüberstehen,
    kämen sie auch von den Enden der Welt!) 47
     
    Nach Kiplings Ansicht sind Menschen (nun ja, zumindest richtige Männer) überall ziemlich gleich. Für ihn ist es die Geographie gewesen, die diese Wahrheit verschleiert hat. Wegen der großen Entfernungen, die ihn und seine Landsleute von den »Fremden« getrennt haben, mussten sie bis ans Ende der Welt reisen, um diese Wahrheit herauszufinden. Im 21. Jahrhundert aber werden solche Reisen mit der rasanten gesellschaftlichen Entwicklung und der schrumpfenden Welt überflüssig |593| werden. Wenn wir die biologischen Begrenztheiten überwunden haben werden, wird es weder Ost und West noch Grenzen und Rasse und Herkunft geben. »Und sie kommen doch zusammen« – sofern es uns gelingt, die Weltendämmerung lange genug hinauszuzögern.
    Wird uns das gelingen? Ich denke, ja. Der große Unterschied zwischen den Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, und jenen, an denen vor 1000 Jahren Song-China und vor weiteren 1000

Weitere Kostenlose Bücher