Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
Infolgedessen ist ein solcher Index niemals »richtig«. Weder kann jedes einzelne Detail völlig korrekt sein, noch ist zu erwarten, dass alle Experten zu etwa gleichen Schätzungen und Annahmen kommen würden. Insofern ist es auch wenig sinnvoll zu fragen, ob die Indexwerte der gesellschaftlichen Entwicklung, die ich berechnet habe, falsch sind. Natürlich sind sie das. Die Frage kann nur lauten:
Wie
falsch sind sie? Sind sie so falsch, dass die Grundgestalt der Geschichte gesellschaftlicher Entwicklung, wie sie in den Schaubildern der Kapitel 4 bis 10 wiedergegeben wird, ein falsches Bild ergibt und in die Irre führt? Geht dieses Buch daher völlig daneben? Oder sind die Fehler nicht eher trivial und unbedeutend?
Diese Fragen lassen sich relativ einfach beantworten. Wir brauchen nur zweierlei zu klären. Erstens: In welchem Maße müssten wir die Punktwerte verändern, um die Vergangenheit so anders aussehen zu lassen, dass die in diesem Buch vorgetragenen Argumente nicht mehr zu halten wären? Zweitens: Wäre eine solche Punktwertveränderung ihrerseits plausibel?
Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden: Man muss die Zeugnisse und Quellen überprüfen, die ich auf meiner Website www.ianmorris.org für jede einzelne von mir vorgenommene Berechnung aufgeführt habe. Hier kann ich nur kurz auf die Möglichkeit eingehen, dass systematische Fehler meine Behauptungen über die Gesamtgestalt und den Gang der Geschichte erschüttern könnten. Meinem Index zufolge (der in logarithmisch-linearer Darstellung in den Abbildungen 3.7 und 11.1 dargestellt ist) übernahm der Westen nach 14 000 v. u. Z. die Führung. Der Osten holte langsam auf, und während des 1. Jahrtausends v. u. Z. fiel die Führung des Westens überwiegend nur knapp aus. Um 100 v. u. Z. zog der Westen wieder etwas davon, bis schließlich, um 541 u. Z., der Osten gleichzog und den Westen überholte – und zwar bis 1773. Dann errang der Westen die Führung erneut, und er wird sie, wenn sich die Trends des 20. Jahrhunderts fortsetzen, auch bis 2103 behalten. Kurz, vom Ende der Eiszeit an gerechnet war seither die gesellschaftliche Entwicklung des Westens über 92,5 Prozent der Zeitspanne hinweg höher als die des Ostens.
[Tabelle vergrößern]
[Tabelle vergrößern]
Tabelle A.4. Indexpunkte für Informationstechniken
|612| In Kapitel 3 habe ich behauptet, die von mir ermittelten Werte könnten um eine Marge von bis zu zehn Prozent falsch sein, ohne dass dies irgendetwas Grundlegendes an diesem Muster ändern würde. Abbildung A.2a zeigt, wie sich der Trend darstellen würde, wenn ich die westliche Entwicklung durchweg um zehn Prozent zu niedrig angesetzt hätte, die des Ostens dagegen um zehn Prozent zu hoch; Abbildung A.2b demonstriert das Ergebnis des umgekehrten »Fehlers«: Hier ist die Entwicklung des Westen durchgehend um zehn Prozent zu hoch, die des Osten um zehn Prozent zu niedrig angesetzt.
Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass diese Werte alles andere als plausibel sind. Abbildung A.2a will uns glauben machen, dass der Westen um 1400 u. Z., also kurz bevor Zheng He in den Indischen Ozean gesegelt ist, entwickelter gewesen sei als der Osten oder dass die westliche Entwicklung im Jahr 218 v. u. Z., als Hannibal seine Elefanten zum Angriff auf Rom über die Alpen führte, bereits höher gewesen sei als die im Osten zu Zheng Hes Zeiten. Und als sei nicht das schon verquer genug, besagen die beiden Kurven auch, dass der Westen 44 v. u. Z., als Cäsar in Rom ermordet wurde, weiter entwickelt gewesen sein soll als der Osten 1793, als Chinas Kaiser Qianlong Lord Macartneys Handelsmission brüskierte, weil China am Export, aber nicht am Import interessiert war.
Abbildung A.2b fällt, wenn das überhaupt möglich ist, noch seltsamer aus. Der Punktwert, den sie beispielsweise für die westliche Entwicklung im Jahr 700 u. Z. ausweist, als die Araber von Damaskus aus ein riesiges Kalifat regierten, soll niedriger sein als der für den Osten im Zeitalter des Konfuzius – das kann einfach nicht stimmen. Ebensowenig, dass der westliche Wert für 1800, als die industrielle Revolution bereits im Gange war, niedriger sein soll als der für China unter der Song-Dynastie von 1000 bis 1200.
Doch auch abgesehen von derart abwegigen Ergebnissen, die Historiker niemals schlucken würden, der Ablauf der Geschichte, wie er in den beiden Varianten der Abbildung A.2 präsentiert wird, ist noch immer nicht verschieden genug von den in den Abbildungen 3.7
Weitere Kostenlose Bücher