Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
deutlich weniger. Wenn die Jagdgründe der vorgeschichtlichen Völker keine tiefen Höhlen umfassten, dann blieben auch die Anstrengungen, ihre Versammlungsorte zu schmücken, nicht erhalten, und wir können sie nicht finden. Ohne Höhlen blieb den Menschen nichts anderes übrig, als sich auf ebener Erde zu versammeln. Und Spuren künstlerischer Betätigung, die 20 000 Jahre lang dem Wind, der Sonne und dem Regen ausgesetzt sind, können kaum je überdauern.
»Kaum je« ist allerdings nicht dasselbe wie »Fehlanzeige«, und so werden wir manchmal doch fündig. In der Apollo-11-Höhle in Namibia lösten sich Steinplatten mit Zeichnungen von Rhinozeros und Zebra von den Wänden, fielen zu Boden und blieben unter Ablagerungen erhalten, die zwischen 26 000 und 19 000 |85| Jahre als sind. Einige Funde in Australien sind noch älter. In Sandy Creek etwa können die mineralischen Ablagerungen, die sich über Teilen von Ritzzeichnungen an einer Höhlenwand bildeten, auf die Zeit vor 25 000 Jahren datiert werden, Fragmente von Farbpigmenten sind sogar zwischen 26 000 und 30 000 Jahre alt. Und in Carpenters Gap, einem Überhang, fanden sich abgefallene Steinplatten von einer bemalten Wand in den Überbleibseln einer 40 000 Jahre alten Siedlung, womit diese Malerei noch älter ist als die in der Chauvet-Höhle.
Keines der afrikanischen oder australischen Beispiele reicht ästhetisch an die besten Arbeiten aus Spanien oder Frankreich heran, und es gibt zudem etliche tiefe Höhlen außerhalb Westeuropas, die überhaupt keine Malereien aufweisen (zum Beispiel Zhoukoudian, das vor 20 000 Jahren wieder besiedelt wurde). Es wäre töricht zu behaupten, alle Menschen hätten sich der Höhlenkunst mit der gleichen Anstrengung gewidmet, von der Erwartung, alle künstlerischen Traditionen müssten gleich erfolgreich sein, ganz zu schweigen. Doch bedenkt man, dass die Bedingungen für die Erhaltung der Malerei in Europa besonders günstig waren, dass zudem Archäologen hier länger und intensiver gesucht haben als anderswo, dann kann man daraus, dass auf anderen Kontinenten überhaupt etwas erhalten blieb, zumindest schließen, dass anatomisch moderne Menschen überall den Drang verspürten, sich künstlerisch mitzuteilen. Wo die Voraussetzungen für Höhlenmalerei nicht so gut waren wie in Westeuropa, haben die Menschen ihre Energie in andere Ausdrucksformen gesteckt.
Abbildung 1.5 zeigt sehr schön, dass es gleichzeitig mit der in Westeuropa massiert auftretenden Höhlenkunst weiter im Osten vermehrt zu Nachbildungen von Menschen und Tieren in Stein, Ton und Knochen kam. Würde es die Ökonomie von Buchpublikationen erlauben, ich könnte Bilder von Dutzenden ganz außerordentlicher Figurinen zeigen, die zwischen Deutschland und Sibirien an vielen Stätten gefunden wurden. So aber muss ich mich auf den jüngsten dieser Funde beschränken, der 2008 im Hohle Fels, einer Karsthöhle der Schwäbischen Alb (Abbildung 1.6), geborgen wurde – eine 59,7 Millimeter hohe Statuette einer weiblichen Gestalt ohne Kopf, aber mit gewaltigen Brüsten, die vor 35 000 Jahren aus Mammutelfenbein geschnitzt wurde. Etwa um die gleiche Zeit haben sich Jäger aus Malaya Síya in der Nähe des Baikalsees in Sibirien – an gewiss einem der unwirtlichsten Orte der Erde – Zeit genommen, Bilder von Tieren auf Knochen zu ritzen. Und um 25 000 v. u. Z. schließlich haben sich in Dolní Věstonice
,
in der heutigen Tschechischen Republik, bis zu 120 Individuen zählende Gruppen in ihren Hütten aus Mammutknochen und Tierhäuten versammelt und dort aus Ton Tausende von Tierfigürchen und auch großbrüstige Frauengestalten geschaffen. In Ostasien bleiben die Verzeichnisse von Kunstwerken schmal. Der älteste Fund jedoch – die kleine Nachbildung eines Vogels, vor vielleicht 15 000 Jahren aus einer Geweihsprosse geschnitzt und 2009 in Xuchang entdeckt – ist so kunstvoll gearbeitet, dass wir sicher sein können, bei zukünftigen Grabungen auch in China eine blühende Tradition eiszeitlicher Kunst zu entdecken.
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Abbildung 1.5: Die Anfänge westlicher Kultur?
Die leeren Kreise zeigen Höhlenmalereien, die 12 000 Jahre und älter sind, die gefüllten Kreise Funde beweglicher Kunstwerke von gleichem Alter.
Eiszeitliche Menschen außerhalb Europas, denen die Bedingungen fehlten, die Altamira und Chauvet so unverwechselbar gemacht haben, fanden offensichtlich andere Ventile für ihre Kreativität. Es gibt
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