Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
Vom Netzwerk:
vergönnt, und möglicherweise hat kein Archäologe je etwas Vergleichbares erlebt. Sautuola sah Bisons, Rotwild, Schicht um Schicht, vielfarbige Tiere, sechs Meter der Höhlendecke nahmen sie ein, manche zusammengerollt, manche im Sprung, andere fröhlich hüpfend (Abbildung 1.4). Jedes einzelne wundervoll und bewegend dargestellt. Picasso, der den Fundort Jahre später besichtigte, rief überwältigt: »Keiner von uns kann so malen. Nach Altamira ist alles andere Dekadenz!«
    Sautuolas erste Reaktion sei spontanes Gelächter gewesen, rasch aber habe ihn die Begeisterung gepackt, so Maria später: »Er war so erregt, dass er gar nicht sprechen konnte.« 12 Nach und nach überzeugte er sich davon, dass die Zeichnungen tatsächlich alt waren (nach jüngsten Untersuchungen sind einige davon über 25   000 Jahre alt). Damals aber, 1879, wusste das niemand. Als Sautuola den Fund auf dem Internationalen Kongress für Anthropologie und Vorgeschichtliche Archäologie vorstellte, lachte ihn die versammelte Fachwelt aus. Höhlenmenschen, das wusste schließlich jeder, konnten keine solchen Kunstwerke produzieren. Sautuola, da waren sich die Experten einig, konnte nur ein Lügner sein oder ein Narr. Sautuola nahm das persönlich, als Angriff auf seine Ehre; acht Jahre später starb er als gebrochener Mann.
    Erst 1902 hat Sautuolas Hauptkritiker, der französische Prähistoriker Émile Cartailhac, Altamira besucht und anschließend öffentlich Abbitte geleistet. Und seither sind einige 100 Höhlen mit prähistorischen Malereien gefunden worden, vor ein paar Jahren erst, 1994, die Chauvet-Höhle im französischen Departement Ardèche, eine der spektakulärsten von allen. Sie ist so gut erhalten, dass man den |82| Eindruck hat, die Maler hätten die Höhle gerade mal für einen Happen Rentierfleisch verlassen und kämen jeden Augenblick zurück. Eine der Darstellungen in der Chauvet-Höhle ist 30   000 Jahre alt und damit eine der ältesten Hinterlassenschaften der anatomisch modernen Menschen in Europa.
    [Bild vergrößern]
    Abbildung 1.4: »Nach Altamira ist alles andere Dekadenz …«
Ein Ausschnitt aus der Decke der Stiere, 1879 von der achtjährigen Maria Sanz de Sautuola entdeckt. Die wissenschaftliche Anerkennung dieses Fundes hat ihr Vater nicht mehr erlebt.
    Nirgendwo sonst auf der Welt wurde bislang etwas gefunden, das diesen Höhlenmalereien gleichkäme. Die Wanderung des modernen Menschen aus Afrika heraus hat alle von der Movius-Linie geschaffenen Unterscheidungen hinfällig gemacht, auch alle biologischen Unterschiede zwischen den älteren hominiden Spezies. Sollten wir also den Anfang einer besonderen (und überlegenen) westlichen Tradition in eine einzigartig kreative Kultur verlegen, die das nördliche Spanien und den Südwesten Frankreichs vor 30   000 Jahren mit prähistorischen Picassos füllte?
    Die Antwort darauf findet man, vielleicht etwas erstaunlich, in den frostigen Weiten der Antarktis. Jedes Jahr fällt dort Schnee, bedeckt die Schichten der vorangegangenen Jahre und presst sie mit der Zeit zu dünnen Eisschichten zusammen. Diese bilden so etwas wie die Aufzeichnung des Wetters in vorgeschichtlicher Zeit. Klimaforscher können die einzelnen Schichten voneinander isolieren, ihre jeweilige Stärke messen und sagen, wie viel Schnee jeweils fiel; sie können das Verhältnis zwischen den Sauerstoffisotopen ermitteln und daraus auf die Temperaturen schließen; und sie können die Menge von Kohlenstoff und Methan miteinander |83| vergleichen, was Aufschluss gibt über Treibhauseffekte. Das Gewinnen der Eisbohrkerne in der Antarktis ist eine der härtesten Aufgaben der Wissenschaft. 2004 ist es einem europäischen Team gelungen, einen Hohlkernbohrer 3,2 Kilometer tief zu treiben und damit erstaunliche 740   000 Jahre in die Vergangenheit vorzudringen.
    Was mit diesen Bohrungen zutage kam, ist eindeutig: Die Welt der Künstler von Altamira war kalt. Nachdem die modernen Menschen Afrika verlassen hatten, begannen die Temperaturen erneut zu fallen; und vor rund 20   000 Jahren – als mehr Künstler Ocker und Holzkohle auf Höhlenwänden verstrichen als jemals zuvor und danach – erreichte die letzte Eiszeit ihren frostigen Höhepunkt. Die Durchschnittstemperaturen lagen um zehn Grad Celsius unter denen unserer Tage, und das macht einen Riesenunterschied. Kilometerdicke Gletscher bedeckten Nordasien, Europa und Amerika, banden so viel Wasser, dass der Meeresspiegel über 90 Meter tiefer lag als heute.

Weitere Kostenlose Bücher