Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
Über die Gletscher fegte der Wind, Staubstürme tobten über trockenen Steppen, kalt im Winter, ausgedörrt im Sommer. Selbst in den weniger abschreckenden Gegenden, bei 40 Grad nördlicher Breite, waren die Sommer kurz, es regnete nur selten, ein geringer Kohlendioxidanteil in der Luft bremste das Wachstum der Pflanzen und hielt die Populationen von Tieren (und Menschen) klein. Es war wie in den schlimmsten Tagen, bevor anatomisch moderne Menschen Afrika verließen.
Das Leben war dort, wo heute die Tropen sind, einfacher als in Sibirien, doch wo immer Archäologen sich umsehen, finden sie Hinweise darauf, dass sich die Gruppen den Bedingungen der Eiszeit in ziemlich ähnlicher Weise angepasst hatten. Die Gruppen waren klein; ein Dutzend Individuen waren schon eine große Horde; in milderen Regionen mochten etwa doppelt so viele zusammenleben. Sie lernten, wann die unterschiedlichen Pflanzen reif wurden und wo sie zu finden waren; wann und wo die Tiere den Jahreszeiten folgend umherzogen und wo sie ihnen auflauern konnten. Beiden folgten sie bei ihren Zügen durch die Landschaft. Wer diese Dinge nicht lernte, musste verhungern.
Derart kleine Gruppen hatten heftig um ihre Reproduktion zu kämpfen. Wie Jäger und Sammler in abgelegenen Regionen unserer Tage müssen auch diese Gruppen von Zeit zu Zeit zusammengekommen sein, um Heiratspartner und Güter auszutauschen, Geschichten zu erzählen und vielleicht auch mit ihren Göttern, Geistern und Ahnen zu kommunizieren. Solche Treffen werden aufregende Höhepunkte im Jahresverlauf gewesen sein. Natürlich können wir darüber nur spekulieren, doch viele Archäologen gehen davon aus, dass solche Feste den Hintergrund der spektakulären Höhlenmalereien in Westeuropa bilden: Alle kamen, herausgeputzt mit Perlen, den besten Tierhäuten und geschminkten Gesichtern; alle schmückten nach Kräften ihre heiligen Versammlungsorte, um sie ganz besonders herzurichten.
Doch liegt die Frage nahe, warum wir – wenn denn das Leben überall gleich hart war, in Afrika, in Asien und in Europa – die begeisternden Höhlenmalereien |84| nur in Westeuropa gefunden haben. Die traditionelle Antwort, dass die Europäer eben kulturell kreativer gewesen seien als die Menschen anderswo, erscheint nicht unbedingt als abwegig. Aber kehren wir die Frage doch einfach mal um. Die Geschichte der europäischen Kunst ist kein durchgehender Katalog von Meisterwerken, der von der Chauvet-Höhle bis zu Chagall reicht. Mit den Höhlenmalereien war es nach 11 500 v. u. Z. vorbei, und es sollten Jahrtausende vergehen, bevor wir von etwas auch nur annähernd Vergleichbarem sprechen können. Die Wurzeln der westlichen Vorherrschaft in einer Tradition von 30 000 Jahren europäischer Kreativität zu suchen, kann nur falsch sein, wenn diese Tradition für Jahrtausende unterbrochen war. Vielleicht sollten wir eher danach fragen, warum die Zeit der Höhlenmalerei endete, denn dann werden wir darauf stoßen, dass die erstaunlichen Funde aus dem vorgeschichtlichen Europa ebensoviel mit geographischen und klimatischen Bedingungen zu tun haben wie mit irgendeiner Besonderheit westlicher Kultur.
Während fast der gesamten Eiszeit waren Nordspanien und Südwestfrankreich ausgezeichnete Jagdgründe, weil sie regelmäßig von Rentierherden auf ihren Wanderungen zwischen Sommer- und Winterweiden durchquert wurden. Als jedoch die Temperaturen wieder zu steigen begannen, vor etwa 15 000 Jahren (mehr dazu in Kapitel 2), zogen die Rentiere im Winter nicht mehr so weit nach Süden, und die Jäger folgten ihnen in den Norden.
Es kann kein Zufall sein, dass die westeuropäische Höhlenmalerei genau um diese Zeit zum Erliegen kam. Immer weniger Künstler krochen mit ihren Tranlampen und Ockerstiften unter die Erde. Irgendwann um 13 500 v. u. Z. war der allerletzte Künstler fortgezogen. Er oder sie werden sich darüber keine Gedanken gemacht haben, doch mit diesem Tag endete eine uralte Tradition. In den Höhlen herrschte wieder Dunkelheit, und für einige Jahrtausende unterbrachen nur Fledermäuse und das Tropfen des Wassers ihre Grabesstille.
Warum aber zog die wunderbare Höhlenmalerei ab 11 500 v. u. Z., als die Jäger den abwandernden Rentieren folgten, nicht kontinuierlich mit nach Norden? Vermutlich aus dem einfachen Grund, weil in Nordeuropa keine passenden Höhlen für die Malerei zu finden waren. In Nordspanien und Südwestfrankreich gibt es eine enorme Zahl tiefer Kalksteinhöhlen; weiter nördlich
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