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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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Universitätsstadt, die ausschließlich aus Nebenstraßen besteht«, hatte er sie unfreundlich, aber nicht unzutreffend genannt 4 ) verlassen, um zwei Jahre bei Claude Lévi-Strauss am Collège de France zu arbeiten, dem Mekka sowohl der Ethnologie und Kulturanthropologie als auch des studentischen Radikalismus. Zur Zeit des Höhepunkts der politischen Krise sandte Sahlins ein Manuskript an die Redaktion von
Les temps modernes
, der Zeitschrift, die damals jeder lesen musste, der in der intellektuellen Szene Frankreichs etwas gelten wollte. Der Aufsatz – »La première société d’abondance« – wurde zu einer der einflussreichsten anthropologischen Schriften, die je veröffentlicht wurden.
    »Öffnet die Kindergärten, Universitäten und andere Gefängnisse«, hatten die radikalen Studenten an eine Wand in Nanterre gepinselt, und: »Dank der Lehrer und der Examen beginnt die Konkurrenz bereits mit sechs.« 5 Sahlins’ Aufsatz hatte den Studenten etwas zu bieten, zwar keine Antwort – die Anarchos hätten das wahrscheinlich auch nicht gewollt: »Sei Realist, verlange das Unmögliche«, war einer ihrer Slogans –, aber Argumente und eine gewisse Ermutigung. Nach Sahlins besteht das zentrale Problem der bürgerlichen Gesellschaft darin, dass diese »ein Heiligtum für das Unerreichbare: nämlich für
unendliche Bedürfnisse
« errichtet habe. Wir Zeitgenossen würden uns der kapitalistischen Disziplin unterwerfen, um Verdienstmöglichkeiten konkurrieren, damit wir uns Dinge kaufen könnten, die wir nicht wirklich wollten. Dabei, so Sahlins, könnten wir von den Jägern und Sammlern durchaus etwas lernen: »Die primitivsten Völker der |114| Welt haben wenig Besitz und
sind trotzdem nicht arm
.« Das klinge paradox, sei es aber nicht: Sammler, so Sahlins, arbeiteten nur 21 bis 35 Stunden die Woche – weniger als die Industriearbeiter in Paris; weniger auch, wie zu vermuten steht, als seine eigenen Studenten. Wildbeuter besäßen weder Autos noch Fernsehapparate, aber sie wüssten auch nicht, dass sie sich solche Dinge wünschen sollten. Gewiss hätten sie wenig Mittel, aber eben auch weniger Bedürfnisse, darum, so Sahlins’ Schluss, lebten sie in der »ursprünglichen Wohlstandsgesellschaft«. 6
    Und dann stellte Sahlins die entscheidende Frage: Warum hat der Ackerbau das Sammeln und Jagen überhaupt ablösen können, wenn dabei nur mehr Arbeit, Ungleichheit und Kriege heraussprangen? Und genau das ist geschehen. Um 7000 v. u. Z. herrschte der Ackerbau überall im Fruchtbaren Halbmond vor. Bereits um 8500 v. u. Z. hatten sich die kultivierten Getreidesorten bis nach Zypern verbreitet, gegen 8000 das zentrale anatolische Hochland erreicht. Um 7000 hatten sich in allen diesen Gebieten die vollständig domestizierten Pflanzen durchgesetzt und verbreiteten sich ostwärts nach Pakistan (wo sie sich aber auch unabhängig entwickelt haben könnten). Sie erreichten um 6000 Griechenland, den Süden des heutigen Irak und Zentralasien, um 5500 Ägypten und Mitteleuropa, bis 4500 v. u. Z. die Altantikküste (Abbildung 2.4).
    Jahrzehntelang haben Archäologen über das Warum dieser Verbreitung diskutiert, konnten sich aber nicht einig werden. Am Ende eines kürzlich veröffentlichten, autoritativen Überblicks konnte sich Graeme Barker von der Universität Cambridge nur zu einer höchst allgemeinen Formulierung durchringen: Bauern hätten die Sammler ersetzt, schreibt er, »auf unterschiedliche Weisen und in unterschiedlichem Maß und aus unterschiedlichsten Gründen, aber unter vergleichbaren Bedingungen und Herausforderungen an die Welt, die sie kannten« 7 .
    Der Vorgang mag unübersichtlich sein – vollzog er sich doch über Jahrtausende und ganze Kontinente hinweg –, aber er lässt sich ganz gut nachvollziehen. Wir müssen uns nur daran erinnern, dass es in letzter Hinsicht um nichts anderes geht als um den Aufwärtssprung, den die Erde in der Großen Kette der Energie vollführt hat. Die Veränderung der Erdumlaufbahn hatte zur Folge, dass die Erde mehr elektromagnetische Strahlung der Sonne einfing; die Photosynthese verwandelte einen Teil dieses Zuwachses in chemische Energie (es gab mehr Pflanzen); der Stoffwechsel wiederum verwandelte Teile der nun größeren Vorräte an chemischer Energie in kinetische (es gab mehr Tiere); und der Ackerbau erlaubte es den Menschen, für den eigenen Bedarf erheblich mehr Energie aus Pflanzen und Tieren zu ziehen. Auch wenn Mikroben, Parasiten und Raubtiere den Bauern so viel

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