Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
dieser neu gewonnenen Energie entzogen, wie sie nur konnten, blieb diesen noch immer reichlich davon.
Nicht anders als andere Tiere und Pflanzen fanden auch die Menschen ein Ventil für diese überschüssige Energie in der Reproduktion. Hohe Geburtenraten ermöglichten ein rasches Wachstum neuer Siedlungen, bis jeder Quadratmeter des verfügbaren Bodens bestellt war. Von da an nahmen Hunger und Krankheiten zu, bis sie die erhöhte Fruchtbarkeit wettmachten. Energiezufuhr und Energieverbrauch erreichten eine ungefähre Balance. Einige Siedlungen fanden ihr Gleichgewicht, das stets bedroht war von Elend und Mangel; in anderen fassten einige mutige Geister den Entschluss, einen Neuanfang zu wagen. Möglicherweise zogen sie nur eine Stunde weiter zu einem unbesiedelten (vielleicht weniger geeigneten) Platz im selben Tal oder auf derselben Ebene – vielleicht zogen sie auch Hunderte von Kilometern weiter: auf der Suche nach grünen Weiden, von denen sie gehört hatten. Selbst Meere waren kein Hindernis für sie. Viele dieser Abenteurer müssen gescheitert sein und haben sich dann wohl abgerissen und halb verhungert wieder zurückgeschleppt, völlig entmutigt. Andere überwanden alle Hindernisse. Wieder wuchsen die Populationen, bis die Todesfälle mit den Geburten gleichzogen oder die Kolonien ihrerseits neue Kolonien ausgliederten.
[Bild vergrößern]
Abbildung 2.4: Gehet hin und mehret euch, Version I
Ausbreitung der domestizierten Pflanzen vom Fruchtbaren Halbmond nach Westen bis zum Atlantik, 9000–4000 v. u. Z.
Die meisten Ackerbauern, die in neue Gebiete zogen, trafen auf dort lebende Wildbeuter. Es ist verlockend, sich Szenen wie aus alten Western-Filmen auszumalen, Überfälle auf die Herden, Skalpjagden und Schießereien (Pfeil und Bogen auf beiden Seiten). Die Wirklichkeit wird weniger dramatisch gewesen sein. Archäologische Befunde zeigen, dass sich die ersten Ackerbauern meist nicht dort |116| niederließen, wo sich bereits Wildbeuter aufhielten, vor allem aus dem Grund, dass das beste Ackerland und der beste Grund für Sammler und Jäger selten zusammenfielen. Zumindest zu Beginn werden Bauern und Wildbeuter einander wenig Beachtung geschenkt haben.
Irgendwann aber verschwand die Lebensweise der Wildbeuter dann doch. Man wird heute wenige Jäger und Sammler finden, die die gepflegten Landschaften der Toskana oder die Vorstädte Tokios durchstreifen. Ackerbauende Populationen wuchsen rasch, brauchten nur wenige Jahrhunderte, bis sie das beste Land besiedelt hatten und dann keine andere Möglichkeit mehr sahen, als in die (in ihren Augen) wenig attraktiven Territorien der Sammler vorzustoßen.
Es gibt zwei Haupttheorien über das, was daraufhin geschah. Der ersten zufolge zerstörten die Ackerbauern die ursprünglichen Überflussgesellschaften. Dabei können Krankheiten eine Rolle gespielt haben; Ratten, das Leben mit den Herden und in dauerhaften Siedlungen werden die Bauern kränker gemacht haben als die Sammler und Jäger. Wir sollten uns aber nicht solche großen Epidemien vorstellen wie die, die die amerikanischen Ureinwohner nach 1492 zu Millionen dahinrafften. Die Erregerpools von Bauern und von Wildbeutern waren nur durch einige Kilometer Wald und nicht durch zunächst unüberwindliche Meere voneinander getrennt gewesen, hatten sich darum auch nicht sehr weit auseinanderentwickelt.
Doch auch ohne Massensterben spielten Größenordnungen eine Rolle. Waren die Wildbeuter entschlossen, um ihr Land zu kämpfen, wie dies zu Zeiten des modernen Kolonialismus in vielen Grenzgebieten geschah, dann mochten sie die Siedlungen der Fremden zerstören. Doch weitere Kolonisten würden nachkommen und den Widerstand hinwegspülen. Möglicherweise entschlossen sich die Wildbeuter aber auch zum Rückzug, doch so weit sie auch vor der neuen Kultur zurückwichen, es würden neue Ackerbauern kommen, noch mehr Wälder roden und ihre Keime überall hinpusten, bis den Wildbeutern zuletzt nur noch Gegenden wie Sibirien etwa oder die Sahara blieben, mit denen Ackerbauern partout nichts anfangen konnten.
Der zweiten Theorie zufolge ist nichts von all dem geschehen, weil die Ackerbauern in den meisten der in Abbildung 2.4 gezeigten Regionen keine Nachkommen von Auswanderern aus dem Fruchtbaren Halbmond gewesen seien, sondern lokale Sammler und Jäger, die sich niederließen und zu Ackerbauern wurden. In Sahlins’ Darstellung erscheinen Ackerbau und das damit verbundene Leben als äußerst unattraktiv, zumindest im
Weitere Kostenlose Bücher