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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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Vergleich mit der ursprünglichen Überflussgesellschaft; aller Wahrscheinlichkeit nach jedoch standen Wildbeuter selten vor der Wahl zwischen zwei Lebensformen. Bauern, die ihren Pflug Pflug sein ließen und sich zum Weiterziehen entschlossen, werden dabei keine regelrechte Grenze zum Territorium der Wildbeuter überschritten haben, vielmehr werden sie auf Siedlungen gestoßen sein, deren Bewohner den Ackerbau weniger intensiv betrieben als sie selbst, ihre Felder vielleicht nur hackten, nicht pflügten und düngten. |117| Dann wieder werden sie Leute getroffen haben, die das Land noch weniger intensiv bearbeiteten, vielleicht ein Stück Wald niederbrannten, das gerodete Land solange bearbeiteten, bis der Wald es zurückerobert hatte, und dann an eine andere Stelle zogen; zuletzt sind sie vielleicht auf Menschen gestoßen, die ausschließlich vom Sammeln und Jagen lebten. In dieser breiten Zone möglicher Kontakte bewegten sich Menschen, Ideen und Mikroben hin und her.
    Wenn die Sammler mitbekamen, dass Nachbarn mit ihren intensiveren Praktiken die Wildpflanzen ausrotteten und auch die Tiere vertrieben, von denen ihr Wildbeuterleben abhing, dann hatten sie nicht nur die Wahl, diese Vandalen zu bekämpfen oder vor ihnen zu fliehen. Genauso konnten sie sich ihrem Vorbild anschließen und ihre eigene Bearbeitung des Bodens intensivieren. Das heißt, die Menschen haben nicht den Ackerbau vorgezogen, Sammeln und Jagd gelassen, sondern sie werden sich entschlossen haben, weniger zu sammeln und ein wenig mehr ihrer Zeit dem Anbau von Pflanzen zu widmen. Irgendwann tauchte die Frage auf, ob sie Unkraut hacken wollten oder nicht, dann ging es ums Pflügen, Düngen und so weiter. Es war also eine Folge kleiner Schritte und nicht der große Sprung, der sie ein für alle Mal aus der ursprünglichen Überflussgesellschaft heraus und zu mühsamer Plackerei und chronischen Krankheiten geführt hätte. Aufs Ganze gesehen und über Hunderte von Jahren und Tausende von Kilometern hinweg haben sich die, die intensiviert haben, auch vermehrt; während die anderen, die an ihrem alten Leben festhielten, schwanden. Es war ein Prozess, während dessen die Grenze des Ackerbaus sich langsam vorwärtsschob. Niemand entschied sich bewusst für hierarchische Verhältnisse und längere Arbeitszeiten; die Frauen haben arthritische Zehen weder bewusst noch freudig in Kauf genommen, so etwas ergab sich nach und nach.
    Ganz gleich, wie viele Steinwerkzeuge, verbrannte Körner oder Gebäudefundamente Archäologen noch ausgraben, sie werden niemals in der Lage sein, die eine oder die andere Theorie zu beweisen beziehungsweise zu verwerfen. Doch auch hier kam ihnen die Genetik zu Hilfe, zumindest ein Stück weit. In den 1970er Jahren startete Luigi Luca Cavalli-Sforza von der Stanford University eine groß angelegte Untersuchung in Europa vorhandener Blutgruppen und Zellkern-DNA. Sein Team fand ein von Südosten nach Nordwesten durchgängiges Gefälle von Genhäufigkeiten (Abbildung 2.5), das sich, wie die Forscher darstellten, sehr gut mit den in Abbildung 2.4 dargestellten archäologischen Befunden vereinbaren lässt. Ihr Schluss: Nachdem Auswanderer aus Westasien den Ackerbau nach Europa gebracht hatten, verdrängten deren Nachkommen die eingeborenen Wildbeuter weitgehend, deren letzte Gruppen sich in den Norden und Westen Europas zurückzogen.
    Dem Archäologen Colin Renfrew zufolge wird Cavalli-Sforzas Szenario auch durch linguistische Befunde gestützt: Die ersten Ackerbauern, so seine Vermutung, haben nicht nur die europäischen Gene durch solche aus Südwestasien ersetzt, sondern auch die in Europa heimischen Sprachen durch indoeuropäische |118| aus dem Raum des Fruchtbaren Halbmondes; nur in kleinen abgeschiedenen Gebieten hätten sich ältere Sprachen erhalten, etwa das Baskische. Das Drama der Enteignung, das der ursprünglichen Überflussgesellschaft ein Ende setzte, ist den Körpern der Europäer eingeschrieben und wiederholt sich, sobald eine oder einer von ihnen den Mund aufmacht.
    [Bild vergrößern]
    Abbildung 2.5: Ins Blut geschriebene Geschichte
    Luigi Luca Cavalli-Sforzas Auswertung der genetischen Befunde in Europa, die auf einem umfangreichen Fundus von Zellkern-DNA basiert. Die Karte zeigt den Grad genetischer Ähnlichkeit moderner Populationen mit den hypothetischen Kolonisten aus dem Fruchtbaren Halbmond, wobei Muster 8 komplette Überseinstimmung anzeigt, Muster 1 den geringsten Ähnlichkeitsgrad. Diese Karte zeige, so

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