Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
Vom Netzwerk:
Wem das gelang, dem ging es besser – und er konnte seine aggressiven Impulse gegen andere Gemeinschaften einsetzen, um deren Reichtümer zu rauben.
    Die bemerkenswertesten Zeugnisse dazu stammen aus Jericho, der Stadt, deren Mauern dem Bericht der Bibel zufolge einstürzten, als Josua seine Posaune blies. Vor 50 Jahren, bei ihren Grabungen dort, fand Kathleen Kenyon tatsächlich Befestigungsmauern – allerdings nicht die Josuas. Denn der lebte um 1200 v. u. Z., die von Kenyon entdeckten Befestigungsanlagen aber sind gut 8000 Jahre älter. Sie interpretierte, was sie fand, als Verteidigungsanlagen – immerhin waren die um 9300 v. u. Z. errichteten Bauwerke 3,60 Meter hoch und 1,50 Meter dick. Weitere Grabungen in den 1980er Jahren erwiesen, dass sich Kenyon wahrscheinlich geirrt hatte, denn ihre »Befestigung« bestand aus mehreren kleinen Mauern, die zu unterschiedlichen Zeiten gebaut worden waren, vermutlich um einen Fluss einzudämmen. Ihr zweiter großer Fund, ein über sieben Meter hoher Turm aus Stein, diente dann wohl doch der Verteidigung. In einer Welt, in der die bedrohlichste Waffe eine mit einem spitz zugeschlagenen Stein bewehrte Stange war, war ein solcher Turm schon ein mächtiges Bollwerk.
    Nirgendwo sonst außerhalb des Fruchtbaren Halbmonds hatten die Menschen so viel zu verteidigen. Noch um 7000 v. u. Z. waren die meisten Menschen außerhalb jener Region Wildbeuter, die jahreszeitlich bedingt wanderten. Und selbst wenn sie begonnen hatten, sich in Siedlungen wie Mehrgarh im heutigen Pakistan oder Shangshan im Jangtse-Delta niederzulassen, waren dies, verglichen mit Jericho, einigermaßen primitive Plätze. Hätte man Jäger und Sammler aus anderen Weltregionen nach Çayönü oder Çatalhöyük einfliegen können, dann hätte sie, angesichts dessen, was sie dort zu sehen bekommen hätten, wohl der Schlag getroffen. Keine Höhlen, keine Ansammlung kleiner Hütten, sondern geschäftige Großsiedlungen mit stabilen Häusern, Nahrungsvorräten, mächtigen Artefakten und religiösen Monumenten. Allerdings hätten sie dort auch hart arbeiten müssen, hätten es mit einer Menge heimtückischer Mikroben aufnehmen müssen und wären wohl jung gestorben. Sie hätten Seite an Seite mit Reichen und Armen gelebt, hätten sich aufgerieben an der Herrschaft der Männer über die Frauen, der Eltern über die Kinder, vielleicht aber auch ihre Freude daran gehabt. Möglicherweise wären sie einigen Menschen begegnet, die das Recht gehabt hätten, sie in Ritualen zu opfern. Wahrscheinlich hätten sie sich gefragt, warum sich Menschen all das antaten und weiter antun.
    Gehet hin und mehret euch
    Ein rascher Sprung über 10   000 Jahre hinweg: von den Ursprüngen von Hierarchie und Plackerei im prähistorischen Fruchtbaren Halbmond ins Paris des Jahres 1967.
    |113| Den Herren mittleren Alters, die den Campus der Pariser Universität in der trübseligen Vorstadt von Nanterre zu verwalten hatten – also den Erben der patriarchalischen Traditionen, die zurückreichen bis nach Çatalhöyük –, erschien es als selbstverständlich, dass man den jungen Damen in ihrem Verantwortungsbereich nicht erlauben sollte, in ihren Wohnheimzimmern junge Männer zu empfangen (das Gleiche galt umgekehrt). Den jungen Menschen werden solche Regeln nie ganz eingeleuchtet haben, doch seit 300 Generationen hatten sich Teenager damit arrangieren müssen. Doch jetzt – 1967 – sollte damit Schluss sein. Als es Winter wurde, stellten die Studenten das Recht der Älteren in Frage, sich in ihre Liebesdinge einzumischen. Im Januar 1968 verglich Daniel Cohn-Bendit, heute als Abgeordneter der Grünen geachtetes Mitglied des Europäischen Parlaments, damals als »roter Dany« ein bekannter Aktivist, die Ansichten des für die Jugend zuständigen Ministers mit denen der Führung der Hitlerjugend. Im Mai lieferten sich die Studenten Straßenschlachten mit der bewaffneten Polizei, bauten Barrikaden, zündeten Autos an und legten die Pariser Innenstadt lahm. Präsident de Gaulle traf sich insgeheim mit seinen Generälen, um zu hören, ob die Armee im Falle eines erneuten Sturms auf die Bastille hinter ihm stünde.
    Das war die Situation, in der auch Marshall Sahlins in Erscheinung trat, ein junger Professor für Sozialanthropologie von der Universität Michigan. Er hatte sich einen Namen gemacht mit einer Reihe brillanter Essays zur sozialen Evolution, aber auch als Kritiker des Vietnamkriegs. Nun hatte er Ann Arbor ( »eine kleine

Weitere Kostenlose Bücher