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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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Cavalli-Sforza, dass Kolonisten, die aus dem Fruchtbaren Halbmond stammen, den Ackerbau quer durch Europa verbreitet haben. Aber viele Archäologen und auch einige Genetiker widersprechen dem.
    Zunächst haben diese neuen Beweise den Streit der Gelehrten nur angeheizt. Linguisten widersprachen Renfrew mit dem Argument, dass die modernen europäischen Sprachen deutlicher voneinander abweichen müssten, wenn sie sich bereits seit sechs oder sieben Jahrtausenden aus einer einzigen Ursprache entwickelt hätten. 1996 dann stellte ein Team aus Oxford, das von Bryan Sykes geleitet wurde, Cavalli-Sforzas genetische Überlegungen in Frage. Sykes’ Team betrachtete – im Unterschied zu Cavalli-Sforza – nicht Zellkern-DNA, sondern mitochondriale DNA und fand keine Südost-Nordwest-Verbreitung, sondern ein derart kompliziertes Muster, dass es sich nicht ohne Weiteres in einer Karte darstellen lässt. Das |119| Team identifizierte sechs Gruppen genetischer Abstammung, von denen sich nur eine plausibel mit Ackerbauern verbinden ließ, die aus Westasien ausgewandert waren. Die anderen fünf sind nach Sykes sehr viel älter und lassen sich auf die ursprüngliche, vor 25   000 bis 50   000 Jahren aus Afrika heraus erfolgte Besiedelung Europas zurückführen. Insofern könnten Europas erste Ackerbauern nicht Nachkommen von Auswanderern aus dem Fruchtbaren Halbmond sein, sondern seien vor allem eingeborene Wildbeuter gewesen, die zu sesshaften Lebensweisen gefunden hätten.
    Die Teams von Cavalli-Sforza und Sykes setzten den Streit 1997 im
American Journal of Human Genetics
zunächst erbittert fort, doch haben sich ihre Positionen seither immer weiter angenähert. Cavalli-Sforza schätzt nun, dass 26 bis 28 Prozent der europäischen DNA von aus Westasien eingewanderten Ackerbauern stammen; Sykes rückt ihren Anteil näher an 20 Prozent. Wenn man also sagt, auf einen der ersten Bauern Europas, der von Einwanderern aus Südwestasien abstammt, kommen drei oder vier, die Nachkommen der Ureinwohner sind, mag man die Angelegenheit vereinfachen, liegt aber nicht ganz falsch.
    Prädestination
    Weder Cavalli-Sforzas und Renfrews Behauptung noch die von Sykes angebotene Alternative – nicht einmal der sich abzeichnende Kompromiss zwischen beiden – hätte die Studenten von Nanterre sonderlich glücklich gemacht, denn beide Theorien betrachten den Sieg des Ackerbaus als unausweichlich. Konkurrenzverhalten hat, wie Genetik und Archäologie zeigen können, wenig mit Examen oder Lehrern zu tun, es begleitet uns immer schon. Die Dinge hätten sich also gar nicht viel anders entwickeln können, als sie es tatsächlich taten.
    Doch stimmt das wirklich? Schließlich haben Menschen einen freien Willen. Faulheit, Gier und Furcht mögen Motoren der Geschichte sein, doch jeder von uns kann sich doch zwischen ihnen entscheiden. Wenn drei Viertel oder mehr der europäischen Ackerbauern von sammelnden Ureinwohnern abstammten, dann hätten die es doch in der Hand gehabt, das Projekt Ackerbau zu stoppen, wenn sich nur genügend von ihnen dazu entschlossen hätten. Warum also kam es nicht dazu?
    Mancherorts kam es sehr wohl dazu. Nachdem sich die Welle des agrikulturellen Fortschritts innerhalb weniger Jahrhunderte von der Gegend des heutigen Polen bis ins Pariser Becken ausgebreitet hatte, kam sie um 5200 v. u. Z. zum Stillstand (Abbildung 2.4). 1000 Jahre lang drang so gut wie kein Ackerbauer in den letzten, 80 bis 100 Kilometer breiten Streifen vor, der sie noch von der Ostsee trennte, und auch nur wenige Wildbeuter dort nahmen eine intensivere Bestellung des Bodens auf. Hier kämpften sie um ihre Lebensweise. Entlang der Grenzlinie zwischen Sammlern und Bauern finden wir eine bemerkenswerte Zahl befestigter |120| Siedlungen und auch Skelette junger Männer, die durch Verletzungen von Stirn oder linker Schädelseite gestorben sind, die ihnen mit stumpfen Instrumenten zugefügt wurden – was darauf hindeutet, dass sie ihr Leben in Zweikämpfen mit Steinäxte schwingenden Rechtshändern verloren haben. Einige Massengräber könnten durchaus Relikte schauerlicher Metzeleien sein.
    Wir werden nie herausfinden, zu welchen Akten von Heroismus und Barbarei es vor 7000 Jahren an der Grenze der nordeuropäischen Ebenen gekommen ist, doch hatten Geographie und Wirtschaftlichkeit mindestens so großen Einfluss darauf, wo und wie die Grenze zwischen Ackerbauern und Sammlern fixiert wurde, wie Kultur und Gewalttaten. Im Raum der Ostseeküste lebten Wildbeuter wie

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