Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
Shaanxi, stand erhöht in der Mitte der Stadt. Die Säulen ruhten auf steinernen Fundamenten, das Bauwerk war umgeben von Gruben voller Asche, von denen einige rot angemalte Kieferknochen von Schweinen enthielten, andere in Stoff gehüllte Schweineschädel, noch andere kleine Tonfiguren mit großen Nasen, Bärten und seltsam spitzen Hüten (sie erinnern an Halloween-Hexen).
|132| Zweierlei fanden die Archäologen an diesen Statuetten besonders aufregend. Zum einen währte die Tradition ihrer Herstellung Tausende von Jahren, und man hat ein ziemlich ähnliches Exemplar in einem um 1000 v. u. Z. entstandenen Palast gefunden, das das chinesische Schriftzeichen
wu
auf seinem Hut trägt.
Wu
bedeutet »religiöser Mittler«. Einige Archäologen schließen daraus, dass alle Figurinen, auch die aus Anban, Schamanen darstellen. Zum anderen wirken viele der Figurinen eindeutig kaukasisch und nicht chinesisch. Ähnliche Exemplare wurden vielerorts entlang der Route von Anban ins zentralasiatische Turkmenistan gefunden, entlang des Wegs, der später zur Seidenstraße werden sollte, die China mit Rom verband. In Sibirien ist der Schamanismus eine bis heute starke Tradition. Gegen Geld rufen ekstatische Seher dort Geister herbei und sagen abenteuerlustigen Touristen die Zukunft voraus. Die Figurinen aus Anban könnten dafür sprechen, dass in chinesische Traditionen religiöser Autorität um 4000 v. u. Z. Schamanen aus dem tiefsten Zentralasien eingegangen sind. Manche Archäologen glauben sogar, dass Schamanen aus dem Fruchtbaren Halbmond, die um 10 000 v. u. Z. gelebt haben, aus der Ferne einigen Einfluss auf den Osten hatten.
Wie andere Relikte zeigen, ist das beileibe nicht ausgeschlossen. Die außergewöhnlichsten davon sind Mumien aus dem Tarim-Becken, die im Westen so gut wie unbekannt waren, bis ihnen Magazine wie
Discover
,
National Geographic
,
Archaeology
und
Scientific American
Mitte der 1990er Jahre plötzliche Publizität verschafften. Die kaukasischen Züge der Mumien scheinen zweifelsfrei zu bestätigen, dass Menschen aus Zentral- und sogar aus Westasien um 2000 v. u. Z. in die westlichen Randgebiete Chinas gezogen sind. Und – ein merkwürdiges Zusammentreffen, fast zu schön, um wahr zu sein – die im Tarim-Becken bestatteten Menschen hatten nicht nur Bärte und große Nasen wie die Figurinen von Anban, bei einigen fand man auch spitze Kopfbedeckungen (in einem Grab lagen zehn wollene Mützen).
Ein paar überraschende Funde, und schon sind alle in heller Aufregung! Doch selbst wenn man die wilderen Theorien einmal beiseite lässt, sieht es so aus, als sei die Kraft der Religion im frühen China nicht weniger bedeutsam gewesen als im Fruchtbaren Halbmond. Und wenn immer noch Zweifel bleiben, so sind zwei Entdeckungen aus den 1980er Jahren dazu angetan, sie zu zerstreuen. Bei Xishuipo in der Provinz Henan grabende Archäologen waren erstaunt, als sie in einem um 3600 v. u. Z. angelegten Grab einen erwachsenen Mann fanden, neben den Muschelschalen in der Form eines Drachens und eines Tigers gelegt worden waren. Weitere Muster aus Muscheln umgaben das Grab selbst, eines zeigt einen drachenköpfigen Tiger mit einem Hirsch auf dem Rücken und einer Spinne auf dem Kopf; ein anderes einen Mann, der auf einem Drachen reitet. Chang interpretierte den Toten als Schamanen, die ihn umgebenden Muschelmosaiken als Tiergeister, die ihm halfen, sich zwischen Himmel und Erde zu bewegen.
Eine Entdeckung in der heutigen Mandschurei, weit im Nordosten, überraschte |133| die Archäologen noch mehr. Zwischen 3500 und 3000 v. u. Z. entstand bei Niuheliang auf einer Fläche von fünf Quadratkilometern eine ganze Gruppe religiöser Stätten. In deren Zentrum lag, was die Ausgräber den »Tempel der Göttin« nannten, ein seltsamer, 18 Meter langer unterirdischer Gang mit Kammern voller Tonstatuetten: Menschen, Mischwesen aus Schwein und Drachen sowie weitere Tiere. Mindestens sechs der Statuen stellten, lebensgroß und größer, nackte Frauen dar, die mit gekreuzten Beinen sitzen. Die am besten erhaltene Frauenfigur hat rot bemalte Lippen und Augen aus blassblauer Jade – einem seltenen, schwer zu bearbeitenden Stein, der zu dieser Zeit an Stätten überall in China als Luxusgut auftaucht. Weil blaue Augen bei Chinesen selten sind, ist man leicht geneigt, diese Statuen mit den kaukasisch wirkenden Figurinen aus Anban und den Mumien aus dem Tarim-Becken in Verbindung zu bringen.
Trotz der isolierten Lage von Niuheliang liegt um
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