Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
Z.) und Chinas erstem wirklichen Schriftsystem (um 1250 v. u. Z.) fast ebenso lang ist wie der zwischen den merkwürdigen Symbolen aus Jerf al-Ahmar in Syrien (um 9000 v. u. Z.) und der ersten wirklichen Schrift in Mesopotamien (um 3300 v. u. Z.). Allerdings gibt es in China mehr Hinweise auf Kontinuität. Dutzende von Fundstätten, insbesondere aus der Zeit nach 5000 v. u. Z., enthielten die merkwürdigen Gefäße mit eingeritzten Zeichen. Gleichwohl streiten die Experten erbittert darüber, ob die groben Ritzungen von Jiahu direkte Vorläufer der über 5000 Symbole des Shang-Schriftsystems sind.
Nicht das schwächste Argument für eine solche Verbindung ist der Umstand, dass so viele Shang-Texte auf Schildkrötenpanzer geritzt wurden. Die Könige dieser Zeit nutzten die Panzer für ihre rituellen Weissagungen; erste Spuren solcher Praktiken findet man bereits um 3500 v. u. Z. Und so fragen sich die Ausgräber von Jiahu, ob die Verbindung von Schildkrötenpanzern, Schriftzeichen, Wahrsagerei und sozialer Macht nicht schon vor 6000 v. u. Z. begonnen hat. Wie jeder weiß, der Texte des Konfuzius kennt, gehören Musik und Rituale in China seit dem 1. Jahrtausend v. u. Z. zusammen. Sollten Flöten, Schildkrötenpanzer und Schriftzeichen aus den Gräbern von Jiahu ein Hinweis darauf sein, dass es bereits 5000 Jahre früher Menschen gab, die darauf spezialisiert waren, mit den Ahnen zu sprechen?
Es wäre eine in der Tat erstaunliche Kontinuität, doch gibt es Parallelen dazu. In Kapitel 1 habe ich die merkwürdigen doppelköpfigen Statuen mit den riesigen starren Augen erwähnt, die, aus der Zeit um 6600 v. u. Z. stammend, in Ain Ghazal |131| im Jordan-Tal gefunden wurden. Die Kunsthistorikerin Denise Schmandt-Besserat hat darauf hingewiesen, wie auffallend ähnlich die Beschreibungen von Göttern sind, die sich in Texten finden, die um 2000 v. u. Z. in Mesopotamien entstanden sind. Im Osten wie im Westen könnten einige Elemente der Religion der ersten Ackerbaugesellschaften außerordentlich langlebig gewesen sein.
Schon vor den Entdeckungen in Jiahu hat Kwang-chih Chang von der Harvard University – der Pate der chinesischen Archäologie von den 1960er Jahren bis zu seinem Tod 2001 – behauptet, dass die ersten wirklich mächtigen Menschen in China Schamanen gewesen seien, die es verstanden, andere davon zu überzeugen, sie könnten zu Tieren und Ahnen sprechen, zwischen den Welten hin und her fliegen, und die die Kommunikation mit den Himmeln zu ihrem Monopol machten. Als Chang dies schrieb, in den 1980er Jahren, erlaubten ihm die verfügbaren Funde nur, die Spuren solcher Spezialisten bis 4000 v. u. Z. zurückzuverfolgen. Zu dieser Zeit wandelten sich chinesische Gesellschaften rasch, und aus einigen Siedlungen wurden Städte. Um 3500 v. u. Z. hatten einige Gemeinwesen bereits 2000 oder 3000 Bewohner, so viele wie Çatalhöyük oder Ain Ghazal 3000 Jahre früher; eine Handvoll dieser Gemeinwesen konnte Tausende von Arbeitskräften mobilisieren, die Befestigungsanlagen errichteten, indem sie Lage über Lage Erde feststampften (guter, zum Bau geeigneter Stein ist selten in China). Die eindrucksvollste dieser Mauern fand sich in Xishan, Provinz Henan. Sie war ursprünglich zwischen 3,50 und 4,50 Meter dick und über 1,6 Kilometer lang. Noch heute ist sie an einigen Stellen bis 2,50 Meter hoch. Unter den Fundamenten wurden in Tonkrügen beigesetzte Kinderskelette gefunden, vermutlich während des Baus gebrachte Opfer. Zahlreiche mit Asche gefüllte Gruben in der Siedlung selbst enthalten Erwachsene in Kampfhaltungen, manchmal zusammen mit Tierknochen. Auch das können rituelle Morde gewesen sein wie die von Çayönü in der heutigen Türkei, und es gibt einige Belege dafür, dass solche schauerlichen Rituale in China bis 5000 v. u. Z. zurückreichen.
Sollte Chang Recht und Schamanen ihre Führungsrolle tatsächlich um 3500 v. u. Z. übernommen haben, dann könnten sie in den größeren Häusern gewohnt haben, die über einer Grundfläche von 370 Quadratmetern errichtet wurden und die von dieser Zeit an in einigen Städten auftauchen. (Archäologen nennen sie häufig »Palast«, was vielleicht ein wenig zu grandios klingt.) Die Bauten hatten mit Stein belegte Fußböden, große zentrale Feuerstellen und Aschegruben, die auch Tierknochen (von Opfern?) enthielten. In einem Gebäude befand sich ein Artefakt aus weißem Marmor, das aussieht wie ein Zepter. Der interessanteste dieser »Paläste«, der von Anban, Provinz
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