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Wer schlafende Hunde weckt

Wer schlafende Hunde weckt

Titel: Wer schlafende Hunde weckt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Brookmyre
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gegen sieben aufwachte, wenn es hell war. Das klappte wohl nach drei Stunden Schlaf nicht.
    Der Traum war ihr so echt vorgekommen. Beide Teile.
    Sie träumte oft von Mum. Manchmal war es ein schönes Erlebnis, und an anderen Tagen wachte sie umso bedrückter auf, weil sie so bildhaft daran erinnert worden war, was sie verloren hatte.
    Die zweite Hälfte war aber neu. Das hatte sie noch nie geträumt, und es erwischte sie umso stärker, weil es mehr als nur ein Traum war. Es war eine Erinnerung. Es gab kaum Details, weil es passiert war, als sie gerade erst vier geworden war. Sie erinnerte sich nur an Gefühle und Eindrücke, nicht an Details. Sie war mit ihrer Mutter unterwegs gewesen und irgendetwas hatte sie abgelenkt. Sie hielt eine Puppe, der eine Hand fehlte. Es war nicht ihre; sie hatte sie gefunden und spielte damit. Als sie wieder aufsah, war ihre Mutter nicht mehr da. Sie konnte sie nicht mehr sehen und ihre Stimme nicht mehr hören. Sie stand einfach da und weinte. Sie war todtraurig, denn ihre größte Angst war Realität geworden, eine Angst, die sie bis vor ein paar Sekunden noch nicht gekannt hatte.
    Wahrscheinlich dauerte es nur ein paar Sekunden, sie wusste es nicht. Plötzlich kam ihre Mutter zurück. Sie tröstete sie, hörte sich aber auch ein bisschen streng an.
    »Warum hast du mich denn nicht gesucht?«, fragte sie.
    Jasmine wusste noch, dass sie in ihrer Erleichterung damals auch ein bisschen beleidigt gewesen war, weil in der Frage ein Vorwurf mitschwang. Sie fand es unfair. Sie war nicht darauf gekommen, weil sie nicht wusste wie, oder dass diese Möglichkeit überhaupt bestanden hatte.

    »Warum hast du mich denn nicht gesucht?«
    Genauso hätte sie Jasmine fragen können, warum sie sich nicht vom Boden abgestoßen hatte und losgeflogen war. Sie stolperte verschlafen durch die Küche, schaltete den Wasserkocher an und öffnete den Kühlschrank. Die Milch war fast leer und auch sonst hatte sie kaum etwas da; auf jeden Fall nichts, woraus man später eine anständige Mahlzeit hätte kochen können. Früher hatte sie dieser Anblick immer richtig erschreckt und ihr ihre Geldsorgen vor Augen geführt, was sie wiederum ernsthaft über ihre Zukunftspläne nachdenken ließ. In der Hinsicht waren die letzten Wochen eine Erleichterung gewesen, doch an diesem Morgen wurde ihr beim Blick in den leeren Kühlschrank ein ganz praktisches Problem bewusst. Sie hatte in der letzten Zeit ein paar Schulden beglichen und sich dies und das geleistet. Es war nicht weiter schlimm, dass ihr Kontostand gegen null strebte, weil sie wusste, dass sie am Donnerstag ihr Monatsgehalt bekommen würde. Aber wenn Jim nicht da war, wurde sie auch nicht bezahlt.
    Ihre Situation hatte auf einmal eine ganz neue Ebene der Aussichtslosigkeit bekommen. Jetzt ging es nicht mehr nur um die Sorge um ihren Onkel und die Angst vor neuem Schmerz und neuer Trauer.
    Sie erinnerte sich an Sergeant Collins’ mitleidigen Gesichtsausdruck. Sie zweifelte nicht daran, dass er seinen Teil tun würde, aber er hatte nicht allzu hoffnungsvoll gewirkt, dass es etwas bringen würde. Nicht nur ihm waren die Hände gebunden. Er wollte den Fall »im System markieren«, aber was, wenn niemand es beachtete oder alle zu viel zu tun hatten, um sich um so eine Kleinigkeit zu kümmern?
    »Warum hast du mich denn nicht gesucht?«
    Sie durfte hier nicht herumstehen und darauf warten, dass ihre Mutter wiederkam oder irgendein anderer Erwachsener sie bei der Hand nahm und ihr half. Sie war erwachsen und hatte einen Auftrag. Sie musste sich an die Arbeit machen.

Motive
    »Alles klar, Opfer James McDiarmid: Wie sieht’s mit seinem Profil aus?«, fragte Catherine, um die Aufmerksamkeit des Besprechungsraums auf sich zu ziehen. Sie war gerade bei ihrer vierten Tasse Kaffee und seit vierzehn Stunden auf den Beinen. Genau so einen ersten Tag brauchte man, um jede Ferienerinnerung und jedes Gefühl von Erholung auszumerzen.
    Anfangs war sie sich als Leiterin dieser Besprechungen ungut wie eine Lehrerin vorgekommen. Darüber war sie aber hinweg, seit sie verstanden hatte, dass es nicht darum ging, dass das Team ihr vorstellte, was es herausgefunden hatte, sondern darum, dass sie sich versichern konnte, dass jeder Einzelne wusste, was die anderen in Erfahrung gebracht hatten. Vermutetes Wissen – besonders die Annahme, dass jeder alle wichtigen Informationen sofort weiterleitete – war eine Gefahr, die proportional zum Umfang der Ermittlung wuchs.
    »Auf jeden Fall

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