Wer schlafende Hunde weckt
Alltagsgewalt sein. Bill Raeside hält Frankie Callahan für den besten Kandidaten. Seiner Organisation geht es besser als den anderen, und Gallowhaugh ist für ihn umso attraktiver, wenn Paddy Steel angeschlagen ist.«
Abercorn verzog das Gesicht. Entweder hielt er es für einen dummen Gedanken, oder er wollte, dass sie das glaubte.
»Callahans Operation geht es sehr gut, und genau deshalb erscheint mir die Vorstellung eines Revierkampfes als ziemlich eindimensionale Logik.«
»Wie gesagt, kam die Idee von Bill Raeside«, lenkte Catherine ein. »Er ist jetzt nicht gerade als großer Querdenker bekannt. Aber was soll denn an dieser eindimensionalen Erklärung nicht stimmen?«
»Hier geht es nicht um Reviere. Wir haben es nicht mehr mit den alten Straßengangs zu tun. Heute geht es nur noch um die Ware. Man braucht kein Revier, wenn man etwas hat, was der Markt will. Die Ware kontrolliert das Revier und nicht andersherum. Deshalb kam auch damals der Mythos um Tony McGill auf, dessen Ehrenkodex ihn angeblich verpflichtete, die Drogen aus Gallowhaugh herauszuhalten.«
»Zumindest bis sie ihn dann mit genug Heroin erwischt haben, um eine Diplodokusherde einzuschläfern«, erwiderte Catherine beeindruckt, dass er sich in die Regionalgeschichte eingelesen hatte.
»Darum geht es ja – es ist nur ein Mythos. Tony McGill hatte keinen Lieferanten, und er wusste, dass die, die einen hatten, seine Machtstellung gefährdeten. Deshalb hat er mit Zähnen und Klauen gegen die Dealer auf seinen Straßen gekämpft. Am Ende hat er natürlich verloren, denn die Ware kontrolliert das Revier.«
»Wen würden Sie sich denn hier zur Brust nehmen? So dem Bauchgefühl nach?«
Abercorn hielt inne und schaute weg, er hielt sie hin wie vorher Paddy Steel.
»Ganz ehrlich: keine Ahnung. Ich weiß nicht, wer sich davon einen strategischen Vorteil erhoffen könnte, und mein Instinkt wie auch meine Erfahrung sagen mir, dass man hier vielleicht gerade nicht nach einer Strategie suchen sollte. Diese Leute planen ihre Morde nicht von langer Hand. Hier gibt es Zermürbungskriege, die Jahrzehnte, ja Generationen andauern, aber es geht nie um so abstrakte Dinge wie den Warenverkehr. Alles ist persönlich. Meistens geht es um Rache. Wenn Sie also für Frankie Callahan kein klassisches Motiv haben, würde ich mich anderswo umsehen. Der ist heutzutageviel zu sehr damit beschäftigt, Geld zu verdienen, als sich mit solchen Geschichten herumzuschlagen.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Tut mir leid, dass ich nichts Konkreteres für Sie habe«, sagte er, »aber wenn Sie irgendwelche Fragen haben, sagen Sie Bescheid. Meine Tür steht immer offen.«
»Okay. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen – Sie haben mich auf jeden Fall weitergebracht«, erwiderte Catherine und griff nach ihrem Blatt, auf dem sie heftig den Namen »Frankie Callahan« umkringelte.
Kein Kind mehr
Jasmine war wieder bei ihrer Mutter, und alles war warm, schön und sicher. Nein, nicht wieder , denn in diesem Traum war ihre Mutter nie gestorben, und Jasmine war nicht die Jasmine von heute, sondern die vielen kleinen Mädchen, die sie gewesen war, lange bevor sie darüber nachdenken musste, jemals ohne ihre Mutter auszukommen.
Sie war mit ihr an vielen verschiedenen Orten – in dem ersten Zuhause, an das sie sich erinnerte: einer gemütlichen, kleinen Wohnung in Comely Bank; in Omas Wohnzimmer; in dem feststehenden Wohnwagen im Urlaub in Nairn; in dem neuen Haus in Corstorphine – doch sie alle vermischten sich. Sie verwandelten sich ineinander, aber alle waren gleich: warm und schön und sicher. Und sie waren aus einem einfachen Grund alle warm und schön und sicher: weil Mum da war.
Dann war sie fort, und Jasmine war einsam und verloren und ängstlich. Sie stand wie angewurzelt da und war umgeben von Umrissen und Leere und Wänden und Fremden. Sie stand einfach da, weinte und wusste nicht, was sie tun sollte – ein verstörtes kleines Mädchen, das noch nicht mal in der Schule war, hilflos und todunglücklich und gelähmt vor Angst.
Sie weinte im Traum, aber der hatte sich an Gefühlen bedient, die so nah an der Oberfläche lagen, dass sie auch weinte, als sie aufgewacht war. Not a good way to start the day , wie es in dem Song hieß. Als sie nach einem Taschentuch griff, fiel ihr Blick auf den Wecker. Es war schon nach halb zehn. Sie hatte bis kurz vor vier wach gelegen. Dann war sie wohl eingeschlafen. Sie stellte den Wecker im Sommer nicht, weil sie normalerweise
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