Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer schlafende Hunde weckt

Wer schlafende Hunde weckt

Titel: Wer schlafende Hunde weckt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Brookmyre
Vom Netzwerk:
getrunken.«
    Jasmine wusste nicht, was das zur Sache tat, aber Anne hatte es wie ein Gebet gesprochen, also musste es ihr eine Menge bedeuten.
    »Sie wurden noch einmal gesehen«, sagte sie mit bebender Stimme. »Samstagmorgen gegen elf an der Raststätte Bothwell an der M74 nach Süden. Der Zeuge meldete sich, als der Fall durch die Lokalpresse ging. Er hatte erst nicht geglaubt, dass es wichtig war, aber er hatte zwei Leute gesehen, auf die die Beschreibung meiner Eltern zutraf, die ein Tragebettchen auf dem Rücksitz ihres Autos verstauten. Er erinnerte sich daran, weil er ihnen hatte helfen wollen, aber ziemlich brüsk zurückgewiesen wurde. Danach gab es keine Spur mehr von ihnen.«
    Anne riss die Augen weit auf, um die Tränen zurückzuhalten.
    »Und war die Polizei sicher, dass es wirklich Ihre Eltern waren?«, fragte Ingrams. »Nicht irgendwer anders mit einem Tragebett?«
    Sie nickte resigniert, als hätte sie lange Jahre alle anderen Möglichkeiten abgewogen. »Es war ein ziemlich auffälliges Auto. Der Zeuge hat von einem lindgrünen Audi 80 gesprochen. So einen hat mein Vater gefahren. Ich kann mich selbst nicht mehr an das Auto erinnern, aber es ist auf ein paar alten Fotos bei uns in der Einfahrt zu sehen. Und sie hatten wirklich oft ziemliche Probleme damit, das Bettchen auf den Rücksitz zu kriegen. Damals gab es noch keine richtigen Kindersitze, und meine Oma hat gesagt, meine Mum hat das Bettchen immer quer hinter den Beifahrersitz geklemmt.«
    »Was hat die Polizei noch herausgefunden?«, fragte Jasmine.
    Anne atmete tief ein und gab eine leisere Version des stockenden Seufzers von sich. Wut, Frustration und dann Selbstkontrolle.

    »Nichts. Überhaupt nichts. Zwischen Freitagabend und Samstagmorgen hat sie keiner gesehen. Als wären sie ins Auto gestiegen und irgendwo südlich von Hamilton vom Erdboden verschluckt worden. Ein paar Wochen war es eine große Story in der Presse, aber ich war damals noch zu jung, um das mitzukriegen. Auf jeden Fall zu jung, um zu verstehen, warum meine Eltern …«
    Sie verstummte, und ihr liefen Tränen über die Wangen. Jasmine kam sich wie eine aufdringliche Voyeurin vor und befürchtete, dass sie vor sich ihre eigene Zukunft sah. Wenn es Anne nach einem Vierteljahrhundert immer noch so wehtat, dann würde es für Jasmine wohl auch nicht so bald leichter werden.
    »Tut mir leid«, sagte Anne, riss sich ein Küchentuch ab und tupfte sich das Gesicht ab.
    Jasmine wusste aus schrecklicher Erfahrung, dass es in so einem Augenblick nichts Tröstliches oder Sinnvolles zu sagen gab, also schwieg sie, obwohl ihr die Stille sehr unangenehm war. Zum Glück kam Neil herein. Er stellte eine schwarze Archivbox auf den Tisch und wollte seine Frau in den Arm nehmen.
    Anne scheuchte ihn mit der Hand weg, bevor er sie berühren konnte. Ihre steife Körperhaltung ließ keine andere Deutung zu. Nicht vor dem Besuch. Wenn überhaupt jemals.
    »Bitte entschuldigen Sie mich«, sagte sie an die beiden gewandt. »Neil macht jetzt mit Ihnen weiter.« Und an ihn gewandt: »Ich geh mit Megan Charlie abholen.«
    Neil nickte verständnisvoll, und sie ging ohne Eile aus der Küche. Er blieb eine Weile verlegen stehen und wusste nicht so recht, was er mit sich anfangen sollte; er wirkte, als wollte er sich für seine Gegenwart entschuldigen. Dann fiel ihm wieder ein, was er vorhatte, und er öffnete die Archivbox und bat die beiden, sich den Inhalt anzuschauen.
    Sie war voller ausgeschnittener Zeitungsartikel, manchedavon in Klarsichthüllen, andere wie Andenken auf Tonpapier geklebt.
    Andenken waren aber nicht das richtige Wort, fand Jasmine. Bei Andenken ging es um Nostalgie, um schöne Erinnerungen. Vielleicht hatte Anne deshalb keinen richtigen Namen für die Box. Sie blieb wohl die meiste Zeit geschlossen, denn selbst die ältesten Artikel waren kaum vergilbt, die Buchstaben und Bilder klar und nicht verblichen. Anne holte die Schachtel nicht hervor, um sich den Inhalt anzusehen – sie war eher ein Archiv, wo Anne aus Pflichtgefühl Dinge einlagerte.
    »Wie Sie sehen«, erklärte Neil, »war das Ganze ein paar Wochen lang eine große Story. Annes Eltern sammelten wie besessen alle Einzelheiten; diese Besessenheit hat dann auch Anne übernommen. Die Regenbogenpresse hielt die Geschichte ziemlich lange am Leben und interviewte jeden einzelnen Wichtigtuer, der irgendwo einen grünen Audi und ein Tragebett gesehen hatte. Oft nahmen sie es wohl auch mit dem Modell und der Farbe nicht so

Weitere Kostenlose Bücher