Wer schlafende Hunde weckt
offensichtlich nur nachmachen würde. Immerhin dachte sie daran, ihr Handy stummzuschalten. Sie hatte eine Weiterleitung vom Bürotelefon geschaltet und wollte nicht im falschen Moment gestört werden.
»Meine Eltern waren Stephen und Eilidh Ramsay«, begann Anne mit langsamer, präzise einstudierter Stimme. »Mein Vater war Statistiker bei einer Chemiefirma außerhalb von Milngavie, und meine Mutter war Grundschullehrerin. Wir wohnten in Bishopbriggs, zumindest seit ich neun Monate alt bin; vorher hatten meine Eltern eine Mietwohnung in Partick. Meine Mutter kam aus Paisley und mein Vater aus Kilsyth, wo auch seine Eltern noch wohnten.«
Sie wirkte völlig unbewegt, als spräche sie über die Familie von jemand anderem oder sogar über dessen entfernte Vorfahren. Vielleicht hatte sie das Ganze einmal zu oft erzählt, oder vielleicht hielt sie es nur so aus.
»Vor ziemlich genau siebenundzwanzig Jahren, im August 1983, war ich gerade zur Schule gekommen. Ich war vier. Ich war doppelt aufgeregt, weil ich gerade einen kleinen Bruder bekommen hatte. Charlie war vier Wochen alt. Und dann … an einem Freitagabend.«
Bei der Pause horchte Jasmine auf. Anne hatte keine Probleme mit der Erinnerung, sondern sie musste sich zusammennehmen, damit ihre Stimme nicht brach.
»Ich habe bei Oma und Opa übernachtet, den Eltern meines Vaters. Meine Eltern sollten sich zusammen einen schönen Abend machen können und essen gehen, weil mit dem neuen Baby und so alles ziemlich chaotisch war. Und ich fand’s total toll bei meinen Großeltern. Ich war oft da, meistens freitags oder samstags, damit Mum und Dad ausgehen und ausschlafen konnten. Damals konnte ich nie richtig verstehen, was für die beiden dabei raussprang, aber heute ist es mir glasklar.«
»Sie haben selber zwei?«, fragte Jasmine und fürchtete einen schrecklichen Augenblick lang, sie würde gleich irgendeine Tragödie über den kleinen Jungen von den Bildern hören, der nirgends zu sehen war.
»Megan und Charlie.«
Das sagte sie mit einem gezwungenen Grinsen, das verriet, dass sie einen Kloß im Hals hatte.
»Megan ist vier und Charlie drei. Er ist im Kindergarten, und Megan ist gerade in die Schule gekommen. Ich hatte noch ein paar Überstunden gut, und die feiere ich diese Woche ab, um ihr ein bisschen beizustehen. Im ersten Monat haben sie nur bis zwölf Unterricht. Die nächsten Wochen holt Neils Schwester sie dann ab.«
»Was machen Sie eigentlich beruflich?«
»Ich bin Anwältin. Harley and Pryde auf der Albion Street. Früher hab ich auch Strafrecht gemacht, aber vor zwei Jahrenbin ich in die Eigentumsübertragung gewechselt, weil das einfach nicht so deprimierend ist. Aber das tut jetzt nichts zur Sache.«
»Ist Ihr Mann auch Anwalt?«
Anne lachte kurz auf. Jasmine wusste nicht, ob sie sich über die Vorstellung ihres Mannes als Anwalt lustig machte oder über Jasmine, weil sie auf die Idee gekommen war.
»Nein, Neil ist IT – Berater.«
Das erklärte ihrer Meinung nach wohl eine Menge. Jasmine wusste jetzt immerhin, warum er sich in Hemd und Kragen nicht wohlfühlte, aber offensichtlich sollte es auch weitere Schwächen andeuten.
»Auf jeden Fall«, setzte Anne genervt fort, weil sie sich hatte ablenken lassen, aber auch nur so genervt, wie wenn man einen Werbeanruf bekommt, während man gerade dabei ist, einen widerlich verdreckten Backofen zu putzen, »nahmen meine Eltern meinen Bruder Charlie an dem Abend mit, weil er noch gestillt wurde. Er war ein sehr ruhiges Baby. Hat immer die ganze Zeit friedlich geschlafen, weshalb sie ihn wohl auch ins Restaurant mitnehmen konnten. Oder ins Hotel.«
»Haben sie in einem Hotel übernachtet?«, fragte Jasmine.
»Nein, sie waren nur im Restaurant des Campsieview Hotels bei Lennoxtown. Sie wollten nur essen gehen, dann nach Hause nach Bishopbriggs fahren und mich am Samstagmorgen wieder abholen.«
Anne öffnete den Mund, sagte aber ein, zwei Sekunden lang nichts. Sie musste schlucken, bevor sie weitersprechen konnte: »Sie sind nie wiedergekommen.«
Sie sprach langsam und deutlich, als wollte sie sich an eine Rede erinnern und keine spontanen Gedanken formulieren.
»Meine Großeltern meldeten sie später am selben Tag vermisst. Den Hotelangestellten nach gingen sie um fünf nach halb elf und hatten Charlie im Tragebettchen. Meine Mutter stillte und trank nicht, und weil der Kaiserschnitt erst vier Wochen her war, konnte sie nicht fahren, also fuhr mein Vater und hatte auch nichts
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