Wer Schuld War
Aussicht auf einen Job, der nicht an seinen Zielen und Lebensträumen vorbeiging,
streckte der Sommer gerade seine ersten zarten Fühler aus, und Manuel freute sich auf heiße Tage in den Bergen oder im Schwimmbad,
auf den überlangen Urlaub, den er sich nach all der vergeblichen Schufterei redlich verdient hatte. Aber dann wurde das Wetter
plötzlich schlecht, und Barbara und er gaben viel Geld für vierwöchige Luxusferien auf einer griechischen Insel aus, weil
sie beide das Gefühl hatten, sich das jetzt gönnen zu müssen, und weil irgendwo immer noch die Hoffnung lauerte, dass sich
nach ihrer Heimkehr wie durch ein Wunder irgendetwas ergeben würde, dass das nicht eintreten würde, was doch nie vorgesehen
war.
Aber alles wurde noch schlimmer.
Manuel wusste in dem Moment, als sie ihre Urlaubskoffer in die leere, staubig riechende, aufgeheizte Wohnung schleppten, dass
er mit dem Dasein, das ihn jetzt erwartete, nicht zurechtkommen würde. Es gab unzählige Menschen, denen es viel schlechter
ging als ihm, die nicht nur arbeitslos, sondern hoch verschuldet waren und dabei möglicherweise auch noch einsam, depressiv
und krank. Aber das half alles nichts. Er fühlte sich nackt wie eineSchnecke ohne Haus. Und dann packte ihn die Panik, ließ ihn nachts nicht schlafen, machte ihn tagsüber gereizt und nervös,
denn die Panik kannte keinen Anlass, also konnte man sie auch nicht von sich fernhalten. Es gab keine wirksame Waffe gegen
sie, sie sprang ihn an wie ein Tier aus dem Gebüsch, schlug ihre Zähne in seinen Hals, zwang ihn in die Knie, nahm ihm die
Luft zum Atmen, wenn er im Auto saß oder spazierenging. Einfach so.
Seitdem er beschlossen hat, Barbara zu verlassen und nach Katar zu gehen, hat sich die Angst von einem Tag auf den anderen
verabschiedet, wurde selbst die Erinnerung daran von Tag zu Tag schwächer. Eine Entwicklung, über die er nie mit Barbara geredet
hat, und das ist das einzige Versäumnis, was er sich seiner Ansicht nach vorzuwerfen hat.
Er sieht nach unten durch den zarten Dunst auf das blaue Meer, erzählt sich zum hundertsten Mal im Stillen seine Version der
Ereignisse. Jede Trennung hat ja eine Geschichte, so muss es auch sein, schon damit man nicht als Schuft dasteht, wenn man
nicht verlassen wird, sondern selber geht.
Die Geschichte, seine Geschichte, geht so, dass Manuel die Wände strich, Türen und Fensterrahmen abbeizte und sie neu lackierte,
das Schlafzimmer umräumte, eine neue Küche einbaute, alte Kleidung aussortierte und sie ordentlich verpackt zur Caritas brachte,
Barbara jeden Abend mit einem selbst gekochten Essen empfing und die komplette Planung für ihr soziales Leben übernahm. Und
Barbara tat so, als würde sie sich darüber freuen, aber in Wirklichkeit war sie von seiner permanenten Anwesenheit überfordert.
Ich komme nach Hause, und du bist immer schon da.
Ja, und?
Ich habe keine Zeit mehr für mich.
Er bestellt ein Frühstück und schaut wieder aus dem Fenster. Seine Auftraggeber haben ihm eine helle, großzügige, klimatisierte,
geschmackvoll möblierte Vier-Zimmer-Wohnung mit Meerblick versprochen, die er allein bewohnen wird, ein Gedanke, der ihn erst
abgeschreckt hat und ihm jetzt immer besser gefällt: vier Zimmer nur für ihn allein. Er wäre vollkommen unabhängig, müsste
sich mit niemandem absprechen, was ihn an seine erste eigene Wohnung nach sechs W G-Jahren erinnert: Wie er in seiner blitzsauberen Küche saß und wusste, dass niemand außer ihm sie je benützen würde, niemand Spaghettisaucen-Spritzer
so lange auf dem Herd eintrocknen lassen würde, bis sie sich nur noch mit Stahlwolle und Chlorreiniger entfernen ließen, niemand
die chromschimmernde Dunstabzugshaube mit Fingertapsern verunstalten oder mit dreckigen Profilsohlen über den Küchenboden
stapfen würde, dass er sich nie wieder über verkalkte Fliesen im Bad ärgern müsste oder er morgens halb nackten fremden Mädchen
begegnen würde, die ihn mit gereiztem Blick musterten, als sei er der Eindringling und nicht sie.
Natürlich ist auch eine Beziehung eine Wohngemeinschaft, und, das ist die Fortsetzung von Manuels Geschichte ihrer langen,
unausweichlichen Trennung, so gesehen anstrengend, ganz besonders anstrengend, wenn die Mitbewohnerin Barb heißt. Denn Barb
räumt ungern und nur oberflächlich auf und vergisst dabei die Hälfte, während er aufs Detail achtet. Pfusch erträgt er nicht.
Schon bei seinem Vater hat ihn diese
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