Wer Schuld War
nämlich ein guter Mensch, was sich altmodisch anhört und heutzutage nicht mehr viel gilt. Und es hilft ihm
auch nicht dabei, ihre Begriffsstutzigkeit weniger ärgerlich zu finden, aber trotzdem tut es gut, ab und zu daran zu denken,
dass seine Mutter eine sehr liebe Frau ist.
»Hab einen schönen Tag, Mama«, sagt er versöhnlich. »Ich melde mich morgen bei dir und erzähle dir, wie es gelaufen ist.«
»Schön«, sagt sie auf ihre versonnene, freundliche Art, mit einem kleinen Lächeln in der Stimme, das ein warmes Gefühl in
ihm aufsteigen lässt, dann entdeckt er in der Lobby eine Gruppe von etwa neun Männern in westlicher Kleidung, die sich um
einen Mann in einem weißen Anzug scharen, sagt »Bis morgen«, und bricht die Verbindung ab.
MARTHA
Martha träumt vom Krieg, irgendeinem Krieg oder ihrem Krieg, sie weiß es nicht genau. Ihr Traum vermischt sich mit Eindrücken
aus den Filmen, die sie viele Jahre später gesehen hat und die ihre Erinnerung an die schrecklichste Zeit ihres Lebens einerseits
ergänzt und andererseits so verfälscht haben, dass sie manchmal überhaupt nicht mehr unterscheiden kann zwischen Realität
und Fiktion.
Sie sieht einen kleinen Jungen zwischen all den Toten stehen. Alles scheint von einer zentimeterdicken grauweißen Schicht
bedeckt, selbst sein Gesicht, und Martha geht näher an den Jungen heran, will ihn tröstend in den Arm nehmen, aber der Junge
ist so steif, dass man ihn kaum anfassen kann, als wäre auch er tot. So kniet Martha vor ihm in Schutt, Dreck und Asche, sieht
ihm in die Augen, sieht, dass die Iris dunkelbraun ist, die Pupillen riesengroß scheinen, sich durch das Augenweiß rote Äderchen
ziehen. Auch die Lider sind brennend rot, wie entzündet. Der Junge ist vielleicht elf oder zwölf und sehr mager. Sie versucht,
ihm den Staub aus dem Gesicht zu wischen, aber das Zeug klebt wie Pech auf seiner Haut, es will sich einfach nicht entfernen
lassen, und plötzlich sagt eine Kinderstimme – vielleicht die Stimme des Jungen, aber seine Lippen bleiben regungslos unter
der Staubkruste –:
Wieso hast du mir nicht geholfen, Martha, jetzt kannst du mich auch gleich in Ruhe lassen.
Und Martha zuckt zurück, denn etwas an dieser Stimme erinnert sie an Heinrich, genannt Harry, ihren Mann, und sie will antworten:
Kein
Mensch konnte dir helfen, du hast dir doch nie helfen lassen, und wer, bitte, lässt denn hier wen nicht in Ruhe?
Aber die Stimme sagt:
Pschscht
– und Martha wacht auf, um fünf nach zwei, mitten in der Nacht, in der es so dunkel und still ist, wie es nur sein kann in
einem Zimmer, das von grauen Aluminium-Jalousien beinahe luftdicht abgeriegelt ist.
Harry hat diese auf den Millimeter genau schließenden Jalousien anbringen lassen, drei, vier Jahre vor seinem plötzlichen
Tod, weil er am besten bei absoluter Dunkelheit schlafen konnte, und weil er schon damals in das Alter kam, wo der Schlaf
sich lange bitten ließ, und – war er endlich da – sich stets fluchtbereit in Mantel und Hut auf die äußerste Bettkante setzte,
um bei der geringsten Störung wieder das Weite zu suchen. Martha hatte sich irgendwann daran gewöhnt, schließt die Jalousien
nun selbst jeden Abend gewissenhaft bis auf die letzte Ritze, als würde Harry noch leben und das gutheißen. Aber trotzdem
ist es immer, wenn sie aufwacht, ein Schock, nichts, aber wirklich gar nichts zu sehen, als wären ihr die Augen mit einem
dicken Filztuch verbunden. Und das ist noch die harmloseste Variante. Manchmal raubt ihr die totale Finsternis auch jedes
Gefühl für sich selbst, scheint sie plötzlich körperlos zu machen, sodass sie nur noch aus angstvoll aufgerissenen Augen besteht,
die versuchen, die Schwärze um sie herum zu durchdringen, während sie Ort, Zeit, Wochentag, sogar ihren Namen vergessen hat.
Diesmal allerdings weiß sie sofort, wer und wo sie ist, schaltet mit geübtem Griff ihr Nachttischlämpchen ein, beugt sich
mit einem leisen Seufzer aus dem Bett und fischt nach einem aufgeschlagenem Taschenbuch, das auf den Boden gefallen ist, und
erwischt es am Einband. Das Buch handelt von einer genialen deutschen Verschlüsselungsmaschine, deren Code im Lauf der Handlung
von noch genialerenenglischen Wissenschaftlern geknackt werden muss, um einen U-Boot -Angriff der Deutschen in letzter Sekunde verhindern zu können, ein Wettlauf mit der Zeit, der sich zum Schluss zu einem spannenden
Crescendo steigert, was Martha immer wieder
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