Wer Schuld War
Badezimmerfenster fällt ein Sonnenstrahl als Auftakt zu einem neuen schönen
Herbsttag, der sie wie schon so oft an Zuhause erinnert, was gut- und auch immer ein bisschen wehtut. Denn Zuhause ist weit
weg, in absolut jeder Beziehung, genauso unerreichbar, als befände es sich auf dem Mond. Die Welt hat sich weitergedreht,
es gibt keinen Weg zurück in eine Vergangenheit, die inzwischen so lang her ist, als wäre sie nie passiert. Und manchmal,
in schwarzen Stunden, fragt sich Martha sogar, ob sie sich nicht alles nur eingebildet hat, ein Leben vor dem Leben hier und
jetzt, eben gerade weil ihre Erinnerungen so farbig und verführerisch sind wie ein Kinofilm. Glücklicherweise gibt es ein
paar Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die immerhin beweisen, dass sie tatsächlich, bevor der Krieg zu Ende war und sie sich als flüchtende
Habenichtse hungernd und frierend auf überfüllten Landstraßen wiederfanden, einen Bauernhof besessen hatten,mit zwei Kühen, einem Hühnerstall und darumherum drei Hektar Land. Die Fotos zeigen auch die vielen Katzen, die Martha über
alles liebte und zum Ärger ihrer Mutter viel zu sehr verwöhnte. Dass die Sommer länger und heißer gewesen waren, die Abende
lauer und die Menschen fröhlicher, das weiß sie auch ohne Fotos.
Natürlich war damals nicht alles so idyllisch, wie sie es sich jetzt in ihren bunten Tagträumen ausmalt. Es existieren ja
auch ganz andere Erinnerungen, zum Beispiel an eine strenge Mutter, die ihre kleine einzige Tochter wie ein Dienstmädchen
zu behandeln pflegte, sie stundenlang an den Holzbottich zwang, wo Martha in der verhassten dunkelroten, muffig riechenden
Blutsuppe rühren musste, damit die nicht stockig wurde. Und Martha schließlich als weitere mütterliche Schikane das morgendliche
Hühnerschlachten übertragen wurde, obwohl doch jeder im Haus wusste, dass sich Martha vor den geköpften Hühnern ekelte, die
noch minutenlang reflexartige Flatterbewegungen machten, während ihnen schon das Blut stoßweise aus dem Hals schoss.
Ihre Mutter ist vor zwei Jahren gestorben, mit über neunzig, und erst in ihren letzten Lebensjahren hatte ihr scharfer Verstand
nachgelassen, vergaß sie in einem schleichenden Prozess alles, was in den letzten fünfzig Jahren in ihrem Leben vorgefallen
war. Stattdessen begab sie sich zurück in eine Vergangenheit, die sich in ihrem armen Kopf offenbar weitaus farbiger als die
Gegenwart präsentierte und die Martha anhand spezifischer Details als das Jahr 1935 identifizierte. Also die glückliche Zeit
vor ihrer Flucht, als noch niemand ahnte, dass diese Regierung das Schlimmste war, was einem passieren konnte: Vertreibung
und Flucht, Hass und Verachtung und den unwiederbringlichen Verlust der Heimat, die Unfähigkeit, woanders jemalswieder Wurzeln zu schlagen, sich wieder zu Hause zu fühlen. Vor allem deshalb sind sie nie wieder dort gewesen, auch nicht
in Schlesien, wo Harry geboren und aufgewachsen war. Sie hatten alles vermieden, was die Erinnerungen und den Schmerz hätte
auffrischen können, und hatten stets gemäßigt links gewählt und ängstlich alle politischen Strömungen beobachtet, die ihnen
einen neuen Krieg hätten bescheren können.
So gingen die Jahre ins Land, starben erst ihr Vater, dann Harrys Eltern, wurde Marthas Mutter wunderlich, ließ die Milch
im Kühlschrank sauer werden, hortete das Einwickelpapier von Käse und Wurst in einer Schublade, wo es fürchterlich vor sich
hin stank, und kochte sich Eier, deren Verfallsdatum Wochen zurücklag. Bis die alte Frau in ein betreutes Seniorenheim ziehen
musste, wo sie ein winziges Appartement mit Nasszelle zugewiesen bekam, in dem sie sich wie in einem Gefängnis fühlte.
Das jedenfalls sagte sie immer wieder, solange sie noch sprechen konnte, und vielleicht war deshalb dann alles sehr schnell
gegangen, hatte sie erst Manuel nicht mehr als ihren Enkel und wenige Monate später Martha nicht mehr als ihre Tochter erkannt,
sondern verwechselte sie mit einer Tante Philomena, von der Martha noch nie gehört hatte. Interessanterweise war diese Tante
Philomena nämlich offenbar ein rechter Besen gewesen, einer der wenigen Menschen, vor denen selbst ihre Mutter Respekt gehabt
zu haben schien. Martha machte sich das schnell zunutze, bat nicht mehr, sondern befahl, hob in ihrer neuen Rolle auch mal
versuchsweise die Hand, als drohte sie einen Klaps an, und stellte immer wieder aufs Neue fest, wie durchschlagend
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