Wer Schuld War
disziplinierend
die Wirkung auf ihre streitsüchtige Mutter war, die sich früher von niemandem hatte ins Bockshorn jagen lassen, am allerwenigsten
von ihrer sanftmütigen Tochter.
Das Badewasser ist kalt geworden, ohne dass es Martha richtig gemerkt hat. Sie hat vor sich hin geträumt, wie es ihr in letzter
Zeit häufiger passiert, hat Löcher in die Luft gestarrt, und dabei haben sich ihre Erinnerungen, die sich erst überhaupt nicht
locken lassen wollten, unversehens selbstständig gemacht, von ihr Besitz ergriffen, die Gegenwart einfach beiseitegeschoben,
als wäre das Jetzt nur eine von zahllosen Zeitschichten und jede davon gleich wichtig.
Die Uhr zeigt zehn. Martha zieht sich an, ohne sich zu beeilen. Sie hat noch genug Zeit, den Film anzusehen, den sie gestern
aufgenommen hat, eine Liebesgeschichte, die im napoleonischen Frankreich spielt. Sie geht ins Wohnzimmer, wo der zweite Fernseher
steht, und setzt sich auf das schwarze Ledersofa, das Harry und sie in den Siebzigerjahren gekauft haben, und das sich als
so unverwüstlich bequem erwies, dass sie es nie ausgetauscht haben.
Um zwölf begibt sich Martha in die Küche, noch ganz erfüllt und bewegt von dem dramatischen Film, dessen Bilder sich in ihrem
Kopf festgesetzt haben und nun gar nicht mehr verschwinden wollen. Ihre Küche kommt ihr sehr klein und eng vor nach all den
prächtigen Räumlichkeiten und den fantastisch weiten Landschaften, die vom Blut kriegerischer Auseinandersetzungen rot gefärbt
worden sind. Nur langsam kehrt sie zurück in die Wirklichkeit, die ihr gar nicht mehr gefällt, denkt an das, was vor ihr liegt,
und seufzt demonstrativ, als wäre jemand da, der sie hören konnte. Ohnehin ertappt sie sich in letzter Zeit manchmal bei leisen
Selbstgesprächen, gemurmelten Kommentaren zu alltäglichen Tätigkeiten, ein befriedigtes »So!«, wenn die Badewanne voll ist
oder der Herd so gewienert, dass er glänzt, ein ratloses »Das gibt’s dochnicht«, wenn sie sich mit irgendeinem Gegenstand in der Hand im Flur wiederfindet, ohne die geringste Ahnung, wohin sie damit
eigentlich gewollt hat, ein verärgertes »Sei doch vorsichtig!«, wenn sich Teller oder Tassen wie von selbst aus ihren Händen
winden und auf dem Steinfußboden zerschellen, etwas, das früher nie passiert ist und ihr nun andauernd widerfährt.
Sie hat Spaghetti gekauft und italienische Dosentomaten und frisches Hackfleisch für die Bolognese-Sauce. Sie stellt Wasser
auf den Herd, bückt sich und zerrt mit beiden Händen ihre schwere gusseiserne Pfanne aus dem Schrank unter dem Herd. Sie stöhnt
ein wenig bei der für sie mittlerweile mühevollen Bewegung – ihr ramponierter Rücken meldet sich und signalisiert nachdrücklich,
dass er für solche Aktionen eigentlich nicht mehr zu gebrauchen ist. Seltsam, wie Schmerzen einen dazu bringen, die jeweiligen
Körperteile sozusagen zu personalisieren, sie getrennt von sich selbst zu betrachten, als gehörten sie nicht mehr zu einem
dazu, als seien es unabhängige Wesen mit eigenem Willen. Martha denkt dieser Erkenntnis ein paar Sekunden – vielleicht sind
es auch Minuten – hinterher, dann würfelt sie Zwiebeln und Knoblauch beinahe mit der alten Geschicklichkeit, brät beides in
Olivenöl an und gibt noch eine Chilischote dazu. Alles automatische Abläufe, die ihr in Fleisch und Blut übergegangen sind,
vor allem weil Harry Spaghetti Bolognese liebte und sie seit einem Urlaub an der Adriaküste genau so haben wollte, wie man
sie in Italien bekommt. Deshalb hat sie vor jetzt fast vierzig Jahren italienisch kochen gelernt, weil ja Harrys Wille in
ihrer Ehe mehr oder weniger Gesetz gewesen war. Und jetzt ist sie froh und dankbar, dass es dieses und ein paar andere Gerichte
gibt, die immer funktionieren und ihr zuverlässig Komplimente einbringen.
Das Wasser kocht sprudelnd, sie schüttet die Spaghettihinein und drückt sie, sobald sie weicher geworden sind, mit einem Löffel nach unten. Danach weiß sie plötzlich nicht mehr
genau, was jetzt zu tun ist; erst die Tomaten oder erst das Hackfleisch anbraten und dann die Tomaten dazugeben, oder ist
die Reihenfolge ganz egal? Braucht es für dieses Gericht überhaupt Tomaten, oder reicht Tomatenmark völlig aus? Sie steht
sekundenlang in ihrer Küche, den Tränen nahe, weil ihr Spaghetti Bolognese doch nie zuvor Probleme bereitet haben. Dann fällt
ihr Blick auf die Stores vor den beiden Fensterchen, die Barbara
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