Wer Schuld War
darauf, sondern beendet die Verbindung. Er will das mit Gina
klären, aber dafür muss er sie persönlich erreichen.
Stattdessen ruft er seine Mutter an.
Es läutet ewig, mindestens zehn Mal. Während dieser Zeit läuft er in die fast leere Bar, setzt sich an den Tresen, und bestellt
einen Tomatensaft mit Salz und Pfeffer, als würde er noch im Flugzeug sitzen. Schließlich hebt seine Mutter doch ab, ihre
Stimme klingt erstaunlich nah, so nah, dass es ihm einen Stich versetzt. Wie immer, wenn er anruft, sagt sie förmlich ihren
Namen in den Hörer, so, als hätte sie seine Nummer nicht längst auf dem Display erkannte, sagt »Bentzinger« mit ihrem typischen
seufzenden Unterton, als sei Leben an sich ein ungeheurer Arbeitsaufwand, dem man sich gleichwohl gehorsam unterwirft.
»Ich bin’s«, meldet sich Manuel, und er glaubt, ihre Erleichterung zu hören, bevor sie überhaupt etwas gesagt hat: Er ist
nicht abgestürzt, er ist nicht im fremden Land verlorengegangen, sondern erreichbar, wenn auch weit weg, und sie kann ihn
jederzeit anrufen, »wenn etwas ist«.
»Wie geht es dir?«, ruft sie, wie immer ein wenig zu laut, denn sie hört nicht mehr besonders gut. »Bist du gut angekommen?«
»Ja. Alles in Ordnung.«
»Und? Wie ist es?«
»Wie ist was?«
Er hört sie verärgert atmen. Sie ist nicht dumm, sie spürt genau, dass er sie absichtlich auflaufen lässt, und plötzlich tut
ihm sein Verhalten leid, diese plötzliche Gereiztheit angesichts von Erkundigungen, die mit enervierender Offensichtlichkeit
keinen anderen Zweck haben, als ein Gespräch in Gang zu bringen. Barbara lachte dagegen immer und sagte Dinge wie »Du redest
ja wieder wie ein Wasserfall, man kommt gar nicht zu Wort bei dir«, aber seine Mutter war mit seiner Art noch nie zurechtgekommen.
»Es ist alles in Ordnung«, sagt er also reuevoll und so freundlich, wie er nur kann. »Ich bin in einem sehr schönen Hotel
direkt am Strand. In zehn Minuten treffe ich mich mit der Firma und den neuen Kollegen.«
»Das ist ja schön.« Mehr kommt nicht an Reaktion, und Manuel weiß, dass sich seine Mutter nicht traut, nachzufragen, und er
weiß auch, dass das wiederum seine Schuld ist, weil er immer so unduldsam mit ihr umgeht. Aber er hatte ihr nun in den letzten
Wochen mehrfach erklärt, was er in Katar beruflich zu tun haben würde, und trotzdem hatte sie offenbar schon wieder alles
vergessen. Diese geistigen Verfallszeichen ärgern ihn, weil sie doch noch gar nicht so alt ist. Sie soll sich zusammennehmen.
Ein Gefallen, den sie ihm nicht tut.
Sie fragt also gar nichts, stattdessen beginnt sie ihrerseits zu erzählen, berichtet von ihren beiden besten Freundinnen Gudrun
und Sigrid, und dass Gudrun einen kurzen Krankenhausaufenthalt antreten müsse »wegen einer Herzsache«. Natürlich fragt Manuel
sofort »Was für eine Herzsache?«, obwohl ihn nichts weniger interessiert als Gudruns Gesundheitszustand. Es geht ihm um Präzision.
»Das weiß ich nicht«, antwortet seine Mutter ungeduldig. »Es ist doch auch egal. Irgendetwas am Herzen halt.«
»Gudrun ist das sicher nicht egal. Sie möchte bestimmt wissen, was genau ihr fehlt.«
»Ja. Sie wollte aber nicht darüber sprechen.«
»Oder du hast es vergessen.«
»Ich habe gar nichts vergessen! Sie hat nicht darüber gesprochen!«
»Schon gut. Ist schon gut.«
Halbwegs besänftigt fährt seine Mutter fort: »Sigrid und ich besuchen sie morgen.«
»Mhm.«
»Sie sagte, sie hat ein sehr schönes Zimmer.«
Also befindet sich Gudrun bereits im Krankenhaus, und hat seine Mutter nicht gerade gesagt, sie gehe erst dorthin? Er lässt
diese Ungenauigkeit widerwillig auf sich beruhen. »Tatsächlich?«
»Ja, wir haben heute früh telefoniert. Es geht ihr ganz gut.«
»Aha.«
»Wie ist denn das Wetter bei euch?«
Weiß sie noch, wie das Land heißt, in dem er sich gerade befindet? Es reizt ihn, das herauszufinden, aber er hält sich zurück.
»Heiß ist es«, sagt er nur.
»Ah ja. Das kann ich mir denken. In diesen Ländern ist es ja immer sehr heiß.«
»Ja. Besonders jetzt. Hör zu, Mama …«
»Du musst jetzt aufhören.«
»Ja. Ich treffe mich jetzt mit meinen Kollegen.«
»Oh.«
»Ich rufe morgen wieder an.«
»Hast du schon mit Barbara telefoniert?«
»Nein.«
Seine Mutter sagt nichts darauf. Barbara und sie haben kein besonders enges Verhältnis; trotzdem tut ihr Barbara leid, weil
sie mitbekommen hat, dass es ihr schlecht geht.Seine Mutter ist
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