Wer Schuld War
genießt, obwohl sie das Buch schon beinahe auswendig kennt. Und so blättert sie
zum hundertsten Mal darin herum und liest sich schließlich an einer Stelle fest, fühlt sich trotz der dramatischen Handlung
wie in einer lieb vertrauten Landschaft, fiebert und ängstigt sich mit den Figuren. Alles also, wie es sein sollte, aber nach
einer Weile wird die Stille um sie herum trotzdem quälend, weckt unwillkommene Erinnerungen wie die an Harrys Tod und die
Zeit danach, als er mehrmals rachsüchtig versuchte, sie ins Jenseits zu holen. Martha langt hinter sich und zieht ihr voluminöses
Kissen hoch genug, dass sie sich anlehnen kann. Aus Erfahrung weiß sie, dass das wieder eine jener Nächte wird, in denen sie
vor dem Morgengrauen nicht mehr einschläft, weswegen sie die Zeit bis dahin möglichst angenehm herumbringen muss.
Sie legt das Buch wieder weg und greift sich die Fernbedienung vom Nachttisch, zappt sich durch Wiederholungen uninteressanter
Filme und deprimierender Werbespots für Sex-Hotlines, bis sie in einem dritten Programm auf eine Sendung mit Bob Ross stößt,
woraufhin sie erleichtert und mit einem köstlichen Gefühl tiefer Entspannung die Fernbedienung sinken lässt. Bob Ross ist
ein gedrungener Mann Ende vierzig mit einer krausen Haargloriole, den man ausschließlich vor einer Staffelei stehen sieht,
denn Bob Ross malt. Komplette Landschaftsbilder in nur einer halben Stunde. Martha hat schon viele seiner Bilder von der Grundierung
bis zur schwungvollen Signatur entstehen sehen und dabei festgestellt, dass die meisten sich sehr ähnlich sind, dass es überhaupt
nur drei oder vier Motive gibt, die Bob Ross in unendlich vielen winzigenVariationen auf die Leinwand bringt. Aber das macht ihr nichts aus, denn es ist schön, Bob Ross zuzugucken, beinahe als wäre
man gerade nach Hause gekommen und würde sich in einen bequemen Sessel fallen lassen.
Doch das Schönste an der Sendung ist Bob Ross’ Stimme, samtig weich und unendlich beruhigend spricht er von »happy little
bushes« und »nice looking trees«, die unter seinen Händen entstehen, als wäre Malen keine Anstrengung, sondern ein geradezu
überirdisches Vergnügen, dem man sich am liebsten vierundzwanzig Stunden täglich widmen könnte, dabei wie ein freundlicher
Prediger ohne Unterlass seine Tätigkeit lobend und preisend.
Alle seine Sendungen sind Wiederholungen; Bob Ross ist im selben Jahr gestorben wie Harry, aber nicht mit neunundsechzig,
sondern erst mit zweiundfünfzig Jahren, und das ist ein ganz kleiner Trost für Martha, denn so gesehen haben Harry und sie
ja noch Glück gehabt. Und schon ist das Bild fertig, und Bob Ross verabschiedet sich mit einem kleinen, zarten, fast verschämten
Winken und seinem typischen Gruß »Good bye, my friends«, und Martha, übermüdet, wie sie ist, gerät fast in Versuchung, zurückzuwinken.
Am nächsten Morgen weiß sie nicht mehr, wann sie eingeschlafen ist, nur dass der Schlaf wie immer zu kurz gewesen ist. Das
spürt sie an ihren schmerzenden Gliedern und an den rheumatischen Beschwerden in ihren Finger- und Zehengelenken, die um diese
Tageszeit immer besonders schlimm sind. So ist es dann schon sieben Uhr, als sie sich aus dem Bett quält, sich in Harrys viel
zu großen Frottee-Bademantel mit den schwarz-roten Streifen wickelt und ihr Tagesritual angeht, das mit einer Tasse schwarzem
Kaffee beginnt. Anschließend frühstückt sie zwei Scheiben Schwarzbrot, eine mit Butter und Schnittkäse, die andere mit Butter
und Honig, alles so, wie sie es mag. Niemandkann ihr da mehr dreinreden, was das Alleinsein dann doch wieder zu einem angenehmen Zustand macht, dieses Ungestörtsein,
die Tatsache, dass man nichts begründen und erklären muss. Wie zum Beispiel das ausgedehnte Bad, das Martha auch diesen Morgen
in ihrer bequemen Sitzbadewanne nimmt, obwohl ihr der Arzt immer wieder davon abrät, weil sie sehr trockene Haut hat.
Ich nehme doch immer Badeöl, Herr Doktor.
Trotzdem, Frau Bentzinger. Ein Vollbad ist Gift für Ihre Haut und auch gar nicht nötig. Eine kurze Dusche reicht vollkommen
aus.
Ja, Herr Doktor. Wenn Sie meinen.
Aber das heiße Wasser tut ihren schmerzenden Gelenken so gut und hilft ihr außerdem, sich jenen angenehmen Gedanken hinzugeben,
die mit den Jahren immer seltener geworden sind, weil sie sich hauptsächlich von Erinnerungen speisen, die sich in letzter
Zeit immer mühsamer abrufen lassen. Durch das
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