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Wer Schuld War

Titel: Wer Schuld War Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Bernuth
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genießt, obwohl sie das Buch schon beinahe auswendig kennt. Und so blättert sie
     zum hundertsten Mal darin herum und liest sich schließlich an einer Stelle fest, fühlt sich trotz der dramatischen Handlung
     wie in einer lieb vertrauten Landschaft, fiebert und ängstigt sich mit den Figuren. Alles also, wie es sein sollte, aber nach
     einer Weile wird die Stille um sie herum trotzdem quälend, weckt unwillkommene Erinnerungen wie die an Harrys Tod und die
     Zeit danach, als er mehrmals rachsüchtig versuchte, sie ins Jenseits zu holen. Martha langt hinter sich und zieht ihr voluminöses
     Kissen hoch genug, dass sie sich anlehnen kann. Aus Erfahrung weiß sie, dass das wieder eine jener Nächte wird, in denen sie
     vor dem Morgengrauen nicht mehr einschläft, weswegen sie die Zeit bis dahin möglichst angenehm herumbringen muss.
    Sie legt das Buch wieder weg und greift sich die Fernbedienung vom Nachttisch, zappt sich durch Wiederholungen uninteressanter
     Filme und deprimierender Werbespots für Sex-Hotlines, bis sie in einem dritten Programm auf eine Sendung mit Bob Ross stößt,
     woraufhin sie erleichtert und mit einem köstlichen Gefühl tiefer Entspannung die Fernbedienung sinken lässt. Bob Ross ist
     ein gedrungener Mann Ende vierzig mit einer krausen Haargloriole, den man ausschließlich vor einer Staffelei stehen sieht,
     denn Bob Ross malt. Komplette Landschaftsbilder in nur einer halben Stunde. Martha hat schon viele seiner Bilder von der Grundierung
     bis zur schwungvollen Signatur entstehen sehen und dabei festgestellt, dass die meisten sich sehr ähnlich sind, dass es überhaupt
     nur drei oder vier Motive gibt, die Bob Ross in unendlich vielen winzigenVariationen auf die Leinwand bringt. Aber das macht ihr nichts aus, denn es ist schön, Bob Ross zuzugucken, beinahe als wäre
     man gerade nach Hause gekommen und würde sich in einen bequemen Sessel fallen lassen.
    Doch das Schönste an der Sendung ist Bob Ross’ Stimme, samtig weich und unendlich beruhigend spricht er von »happy little
     bushes« und »nice looking trees«, die unter seinen Händen entstehen, als wäre Malen keine Anstrengung, sondern ein geradezu
     überirdisches Vergnügen, dem man sich am liebsten vierundzwanzig Stunden täglich widmen könnte, dabei wie ein freundlicher
     Prediger ohne Unterlass seine Tätigkeit lobend und preisend.
    Alle seine Sendungen sind Wiederholungen; Bob Ross ist im selben Jahr gestorben wie Harry, aber nicht mit neunundsechzig,
     sondern erst mit zweiundfünfzig Jahren, und das ist ein ganz kleiner Trost für Martha, denn so gesehen haben Harry und sie
     ja noch Glück gehabt. Und schon ist das Bild fertig, und Bob Ross verabschiedet sich mit einem kleinen, zarten, fast verschämten
     Winken und seinem typischen Gruß »Good bye, my friends«, und Martha, übermüdet, wie sie ist, gerät fast in Versuchung, zurückzuwinken.
     
    Am nächsten Morgen weiß sie nicht mehr, wann sie eingeschlafen ist, nur dass der Schlaf wie immer zu kurz gewesen ist. Das
     spürt sie an ihren schmerzenden Gliedern und an den rheumatischen Beschwerden in ihren Finger- und Zehengelenken, die um diese
     Tageszeit immer besonders schlimm sind. So ist es dann schon sieben Uhr, als sie sich aus dem Bett quält, sich in Harrys viel
     zu großen Frottee-Bademantel mit den schwarz-roten Streifen wickelt und ihr Tagesritual angeht, das mit einer Tasse schwarzem
     Kaffee beginnt. Anschließend frühstückt sie zwei Scheiben Schwarzbrot, eine mit Butter und Schnittkäse, die andere mit Butter
     und Honig, alles so, wie sie es mag. Niemandkann ihr da mehr dreinreden, was das Alleinsein dann doch wieder zu einem angenehmen Zustand macht, dieses Ungestörtsein,
     die Tatsache, dass man nichts begründen und erklären muss. Wie zum Beispiel das ausgedehnte Bad, das Martha auch diesen Morgen
     in ihrer bequemen Sitzbadewanne nimmt, obwohl ihr der Arzt immer wieder davon abrät, weil sie sehr trockene Haut hat.
    Ich nehme doch immer Badeöl, Herr Doktor.
    Trotzdem, Frau Bentzinger. Ein Vollbad ist Gift für Ihre Haut und auch gar nicht nötig. Eine kurze Dusche reicht vollkommen
     aus.
    Ja, Herr Doktor. Wenn Sie meinen.
    Aber das heiße Wasser tut ihren schmerzenden Gelenken so gut und hilft ihr außerdem, sich jenen angenehmen Gedanken hinzugeben,
     die mit den Jahren immer seltener geworden sind, weil sie sich hauptsächlich von Erinnerungen speisen, die sich in letzter
     Zeit immer mühsamer abrufen lassen. Durch das

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