Wer sich in Gefahr begibt - Granger, A: Wer sich in Gefahr begibt - A Rare Interest in Corpses
Dr. Tibbett. »Moralische Schwäche, Ma’am, moralische Schwäche ist leider, leider heutzutage bei jungen Leuten weit verbreitet!«
»Wann war das?«, wagte ich zu fragen.
»Oh, warten Sie … vor sechs bis acht Wochen, schätze ich«, antwortete Frank. »Eher vor zwei Monaten. Ich muss sagen, ich war ebenfalls ziemlich überrascht. Sie kam mir immer wie so eine kleine graue Maus vor, wissen Sie? Wer hätte so etwas von ihr gedacht?«
»Eine Heuchlerin!«, schimpfte Dr. Tibbett einmal mehr.
Die Unterhaltung wurde durch das Abräumen der Reste vom Steinbutt und der Ankunft eines gegrillten Kalbsschenkels unterbrochen. Als sie wieder anfing, war das Thema meiner verschwundenen Vorgängerin wie durch stummes Einverständnis vom Tisch.
Nach dem Essen gingen Dr. Tibbett und Frank in die Bibliothek, um dort Zigarren zu rauchen, und Mrs Parry und ich kehrten in den Salon zurück. Ich war inzwischen sehr müde nach einem langen, anstrengenden Tag, und es kostete mich viel Anstrengung, wach zu bleiben, geschweige denn, Konversation zu betreiben.
Mrs Parry nutzte die Gelegenheit, um noch einmal auf das Thema von Franks Versetzung nach St Petersburg zurückzukommen.
»Ich wusste natürlich, dass Frank irgendwohin geschickt werden würde, keine Frage. Allerdings hatte ich sehr gehofft, dass es ein angenehmes, zivilisiertes Land sein würde, beispielsweise Italien. Mr Parry und ich waren auf unserer Hochzeitsreise in Italien. Das Klima war so angenehm mild und die Landschaft so wunderbar, dass ich mich sogleich in dieses Land verliebt habe. Wir wohnten in einer entzückenden Villa am Ufer eines herrlichen Sees, umgeben von Bergen. Von Zeit zu Zeit gab es spektakuläre Gewitterstürme, und die Blitze zuckten von Gipfel zu Gipfel. Aber Russland … Was um alles in der Welt will er denn in Russland? Allein der Gedanke, dass es gerade mal zehn Jahre her ist, seit wir diesen schrecklichen Krieg am Schwarzen Meer mit ihnen ausgefochten haben! Franks Vater war ein Offizier der Kavallerie und hätte vielleicht ebenfalls an diesem Krieg teilgenommen, wenn er sich nicht ein paar Jahre zuvor das Gehirn aus dem Schädel geschossen hätte!«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, um sie zu trösten, doch es dauerte nicht lange, bis die Gentlemen zurückkehrten und ich von der Notwendigkeit erlöst wurde, es zu versuchen. Als sie das Zimmer betraten, hatte ich den Eindruck, dass Frank ein wenig errötet wirkte und die Contenance verloren zu haben schien. Ich fragte mich, ob es vielleicht einen Streit gegeben hatte. Falls ja, hatte er Dr. Tibbett jedenfalls kaltgelassen, der mit geübter Bewegung seine Schwalbenschwänze beiseitewischte, als er sich setzte und mühelos die Konversation an sich riss wie schon zuvor.
Wir wurden nun mit seinen Ansichten bezüglich der gegenwärtigen Situation der Kirche von England vertraut gemacht, die – wenn man seinen Worten Glauben schenken durfte – von allen Seiten belagert wurde. Die Mächte, welche die Trennung von Staat und Kirche betrieben, hatten ihre Truppen in Bewegung gesetzt und unterwanderten das Parlament. Mehr noch, informierte Dr. Tibbett uns, die Kirche wurde von außen unterminiert durch den wachsenden Einfluss der Methodisten und von innen durch die unheilvollen Intrigen der Traktarianer, von den Angriffen der Darwinisten und ihren verderbten Theorien gar nicht erst zu reden.
»Ich habe Darwins Buch über den Ursprung der Arten gelesen«, sagte ich unbekümmert, da ich hier eine Gelegenheit sah, mich als gute Unterhalterin zu profilieren und Dr. Tibbetts nahtlose Hetztiraden für ein, zwei Augenblicke zu unterbrechen. Seine dröhnende Stimme verursachte mir Kopfschmerzen. Mrs Parry saß dort und nickte wie eine Puppe, und Frank starrte zur Decke hinauf und murmelte von Zeit zu Zeit seine Zustimmung, obwohl er offensichtlich keine Idee hatte wozu. Ich vermutete, dass er mit den Gedanken ganz woanders war.
Eine betäubte Stille folgte meinen Worten.
Mrs Parry sah verwirrt aus. Frank nahm den Blick von der Decke, hob die Augenbrauen und grinste. Dr. Tibbett legte die Fingerspitzen zusammen.
»Das ist kein angemessenes Werk, um es in die Hände einer Lady zu legen«, bemerkte er.
»Mein Vater hat es kurz vor seinem Tod erworben. Er las tatsächlich noch an seinem letzten Abend darin.«
»Ah!«, rief Dr. Tibbett aus, als würde das alles erklären.
»Nun ja«, warf Frank ein. Sein Interesse an der Konversation war offenbar wieder geweckt, und ein spitzbübisches
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