Wer sich in Gefahr begibt - Granger, A: Wer sich in Gefahr begibt - A Rare Interest in Corpses
die sich unablässig bekreuzigt haben und hoffen, dass die arme Frau in Frieden ruhen möge.«
Wir waren durch einen schmalen Flur gegangen, der nach Moder stank und nach Generationen ungewaschener Leiber. Ein weiteres heimtückisches Miasma rann von den Wänden: Armut. Es hatte seinen eigenen, charakteristischen Geruch. Ich spürte, wie er mir in die Nüstern kroch, und zückte mein Taschentuch, um es auf meine Nase zu drücken.
»Es stinkt ein wenig, nicht wahr?«, bemerkte Morris freundlich, als er mein Unbehagen bemerkte.
Ich schämte mich ob meiner Schwäche und steckte das Taschentuch wieder ein.
Wir waren in einem der hinteren Räume angekommen. Hier wartete ein neuer Geruch auf uns: der süßliche Gestank nach verrottendem Fleisch. Die Tote war nach draußen gebracht worden, doch nichts außer dem Abriss vermochte diesen Gestank zu entfernen. Ich schaute mich in dem Versuch um, mir diesen Raum als ein Zuhause vorzustellen. Irgendjemand, vermutlich in dem Bestreben, die Kälte nach draußen zu verbannen, hatte die Wände mit alten Zeitungen beklebt. Anzeigen für eine Ausstellung von Aquarellen, gute importierte französische Seife und antiquarische Bücher bildeten einen merkwürdig unpassenden Hintergrund für ein Leben, in dem diese Dinge völlig ohne Bedeutung gewesen waren. Die Dielenbretter waren nackt, stellenweise verrottet, und sämtliches Mobiliar war entfernt worden, bis auf eine zerbrochene Bettstatt an der Wand.
»Sie lag dort«, erklärte Morris und deutete auf das Bett. »Halb unter dem Bett, allerdings nicht versteckt, auch wenn derjenige, der sie dorthin gelegt hat, einen alten Teppich über sie geworfen hat. Ihre Füße ragten hervor. Man konnte sofort sehen, was es war, sobald man den Raum betrat, selbst wenn der Geruch nicht gewesen wäre. Die Männer, die sie gefunden haben, wussten gleich, dass es sich um eine Leiche handelte, und haben nach dem Vorarbeiter gerufen. Dann haben sie – laut den Worten des Vorarbeiters – die Arbeiten sofort eingestellt. Niemand hat noch einen Stein angerührt, nirgendwo auf der ganzen Baustelle, nicht, solange sie hier lag. Der Vorarbeiter geriet in Panik, weil die Eisenbahngesellschaft ihn für die Verzögerung verantwortlich machen würde. Er hat entschieden, dass die Tote entfernt wurde. Ich sagte zu ihm, dass der Inspector sie zuerst sehen müsse, doch er schickte jemanden zu dem Gentleman von der Eisenbahngesellschaft, und der wiederum hat jemanden woanders hingeschickt. Am Ende kam der Befehl vom Superintendent, dass wir sie zum nächsten Leichenhaus bringen sollten. Aber ich habe ein Stück Kreide genommen und markiert, wo sie gelegen hat … sehen Sie, Sir?«
Morris deutete stolz auf einen menschlichen Umriss auf den Dielen halb unter dem alten Bett.
»Ich habe mich gründlich umgesehen, genau wie Biddle und Jenkins, Sir. Wir waren oben und alles. Wir konnten nichts von Interesse entdecken.«
Morris hatte sein Bestes getan, um zu verhindern, dass die Leiche weggeschafft wurde, doch am Ende hatte die Eisenbahngesellschaft ihre Beziehungen spielen lassen. Da die Männer auf der Baustelle nicht arbeiten wollten, solange die Leiche in situ lag, musste sie ergo entfernt werden. Jetzt wartete sie in dem Leichenhaus, zu dem wir fahren würden, sobald ich gesehen hatte, was es hier noch zu sehen gab. Wie Sie sehen, habe ich meine lateinischen Sätze gelernt. Ich bin ein ehrgeiziger Mann, und ich habe hart gearbeitet. Ich habe lange Stunden bei Kerzenlicht verbracht, um die Mängel in meiner Bildung zu beseitigen, und heute bin ich Inspector bei der Metropolitan Police Force in der Abteilung Scotland Yard. Doch wenn ich morgens beim Rasieren in den Spiegel sehe, sage ich oftmals laut zu mir selbst: »Du täuschst niemanden, Ben Ross. Du bist der Sohn eines Bergmanns, und das wirst du auch immer bleiben.«
Ich schaute auf den staubigen Dielenboden und Morris’ Bemühungen hinunter, die Beweise zu sichern, und seufzte. Die Arbeiter, welche die Tote gefunden hatten, waren überall herumgetrampelt, gefolgt von dem ersten Constable, der herbeigerufen worden war, und schließlich Morris und seinen Helfern. Falls es je einen kleinen Hinweis gegeben hatte, dann war er längst verschwunden oder zerstört.
Draußen ertönte ein Ruf. Schwere Schritte hallten durch den Flur, und Biddle steckte sein rosig glänzendes Gesicht unter der wackeligen Kopfbedeckung durch den leeren Türrahmen. »Der Gentleman von der Eisenbahngesellschaft ist da, Sir, zusammen
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