Wer sich in Gefahr begibt - Granger, A: Wer sich in Gefahr begibt - A Rare Interest in Corpses
Menschen wider besseres Wissen eine Lüge akzeptierten, weil die nackte Wahrheit viel zu widerwärtig ist. Als ich älter wurde, sah und begriff ich, wie häufig das der Fall ist. Der Fall der Karotten war außerdem ein mahnendes Beispiel dafür, wie man, sobald man anfängt, eine Lüge zu erzählen, gezwungen ist, diese immer weiter auszuschmücken. Und bevor man sich versieht, ist das Ganze zu einem richtigen Ärgernis geworden.
In diesem Augenblick jedoch war ich nur damit beschäftigt gewesen, möglichst schnell in meine Kleider zu schlüpfen. Anziehen war eine komplizierte Angelegenheit, und normalerweise hatte ich die Hilfe von Molly. Natürlich konnte ich Molly unmöglich rufen. Es gelang mir, meine Schlüpfer und einen Petticoat anzulegen sowie ein Kleid, doch Molly hatte meine Stiefel mitgenommen, um sie sauberzumachen; also schob ich die nackten Füße in ein paar völlig ungeeignete Morgenschuhe aus Satin, wickelte mir einen gehäkelten Wollschal um die Schultern und eilte die Hintertreppe hinunter.
Nun stand ich vor dem Problem, das Haus zu verlassen. Die Vordertür war entriegelt worden, zugegeben, doch es war riskant, diesen Weg zu nehmen. Ich konnte zu leicht entdeckt werden. Die Hintertür würde noch versperrt sein, und ich wusste, dass meine Finger nicht kräftig genug waren, um den schweren Riegel zurückzuziehen. Als ich am Fuß der Treppe angekommen war, hörte ich ein klapperndes Geräusch aus der Küche auf der Rückseite des Hauses. Irgendjemand stand im Begriff, mir die Arbeit abzunehmen. Ich spähte durch die Tür und sah, dass Mary Newling von dem Tumult wach geworden war und die Tür öffnete. Sie bot einen beeindruckenden Anblick in ihrem voluminösen Nachtgewand mit dem Plaid-Tuch über den Schultern, das Haar ein Wald von verknoteten Stofffetzen. Diese lenkten mich für den Augenblick ab, und ich fragte mich, warum sie versuchte, sich Locken ins Haar zu machen, wo sie es doch normalerweise unter einer Haube verborgen trug.
Sie zerrte die Tür auf und rief in den Hof hinaus: »Was ist passiert?«
»Der Doktor wird in der Grube gebraucht!«, antwortete eine Stimme aus dem Dunkel.
»Gütiger Gott!«, rief Mary. »Hat es eine Explosion oder einen Einsturz gegeben?«
»Weder noch, Missus. Sie haben nur einen Toten gefunden.«
Nur einen Toten? Selbst ich begriff, dass er damit meinte, es hätte nur einen einzigen Toten gegeben. Wenn die Stützen in den Minen nachgaben oder das Schlagwetter sich entzündete und zu einer Staubexplosion führte, kamen die Leichen im Dutzend nach oben – falls sie überhaupt je geborgen wurden. Die meisten Männer arbeiteten noch immer mit traditionellen Lampen und offenem Feuer. Molly Darby hatte meine kindliche Phantasie zum Frösteln gebracht mit Schauergeschichten von Männern, Frauen und Kindern, die in den Kohlenflözen begraben waren, wo sie gearbeitet hatten. Mollys Vater und ihre drei Brüder arbeiteten in der Grube, und ihre eigene Mutter war in jungen Jahren mit schweren Körben voll Kohle auf dem Rücken durch die engen Passagen gekrochen, bis sie nach einem Unfall gelähmt gewesen war. Es war Molly, die mir die Ironie erklärte, dass, nachdem die Sicherheitslampe von Sir Humphrey Davy erfunden worden und in allgemeinem Gebrauch war, die Männer gezwungen worden waren, in noch tieferen und noch gefährlicheren Tunneln zu arbeiten.
Obwohl unsere Gemeinde eine kleine Minenstadt im Kohlerevier von Derbyshire war, sahen wir die Bergleute selbst nur selten in der Stadt. Sie und ihre Familien lebten in eigenen Siedlungen, beengten Zweckbauten in der Nähe der Gruben, die Molly mir einmal genauer beschrieben hatte. Wenn sich eine Person im Bett umdrehte, erklärte sie fröhlich, dann fiel der Bursche im Haus nebenan hinaus! Hinter jedem Haus stand ein Schweinestall, und der sorgfältig gemästete Bewohner wurde zu Beginn des Winters geschlachtet. Sein haltbar gemachtes Fleisch bildete bis zum nächsten Frühling den Großteil der Nahrung der Familie. Die Bergleute mussten ihre Lebensmittel nach dem Willen ihrer Arbeitgeber in einem eigenen Laden bei der Mine einkaufen und zahlten dort mit Gutscheinen, die in anderen Geschäften der Stadt nicht akzeptiert wurden. Diese Gutscheine hatten den Spitznamen ›Truck‹, erzählte Molly und fügte hinzu: »Das hindert die Arbeiter daran, ihren Lohn in den Pubs zu vertrinken.« Gleichzeitig verstärkte es die Isolation der Familien von den übrigen Bewohnern der Stadt, die ihrerseits keine Veranlassung
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