Wer sich nicht fügen will
machte Sulonen plötzlich kehrt, stieß Koivu beiseite und rannte in entgegengesetzter Richtung davon. Es dauerte ein paar Sekunden, bis wir reagierten. Konkola und Montonen mit ihren langen Beinen waren schnell, kollidierten aber ständig mit Passanten. Ich hatte sie bald eingeholt und sah, wie Sulonen auf das Geländer am Lichthof kletterte. Er wollte eine ganze Etage nach unten springen, wahrscheinlich in der Hoffnung, schneller die Rolltreppe zur Metro zu erreichen. Er schwang sich über das Geländer und breitete die Arme aus wie Flügel. Irgendwer schrie gellend auf, als sein Körper aufschlug. Schubsend und drängelnd rannten wir die Treppe hinunter. Sulonen rappelte sich auf, zäh wie eine Comicfigur, und versuchte zur Rolltreppe zu kommen. Doch sein linkes Bein trug ihn nicht, wir holten ihn mühelos ein. Er stöhnte vor Schmerz.
»Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte Koivu. »Was sollte das denn? Verdammt nochmal, jetzt müssen wir auch noch einen Krankenwagen für dich bestellen. Ist das Bein gebrochen?«
Sulonen schüttelte den Kopf. »Ich bin ein guter Springer, ich bin Batman, kapiert?«
Als ich ihm genauer in die Augen sah, wurde mir klar, dass er offenbar außer Alkohol noch andere Rauschmittel zu sich genommen hatte.
Die Leute starrten herüber, als Sulonen auf eine Trage geschnallt und zum Krankenwagen gebracht wurde. Die Helsinkier Streifenbeamten fuhren in der Ambulanz mit. Ich sagte ihnen, wir würden Sulonen später vernehmen, und schärfte ihnen ein, den Mann nicht aus den Augen zu lassen. Bedrückt machten wir uns auf den Rückweg nach Espoo. Wir hatten Sulonen gefasst, na schön, aber die Festnahme war eine Farce gewesen und seine Verletzung eine unnötige Komplikation. Wir würden ihn frühestens am nächsten Tag vernehmen können, und da in der Unfallstation um diese Jahreszeit Hochbetrieb herrschte, würden Montonen und Konkola einen Großteil ihrer Arbeitszeit untätig im Wartezimmer verbringen müssen.
»Glaubst du, er wollte sich umbringen?«, fragte Koivu, als ich auf die Autobahn Richtung Espoo fuhr.
»Keine Ahnung. Aber ich wüsste gern, wo er sich in letzter Zeit aufgehalten hat und wer seine Helfer sind. Und was er in der Brieftasche hat. Wir müssen Montonen anrufen, er soll nachsehen. Hoffentlich hat Sulonen sich nicht ernsthaft verletzt.«
Ich hatte meinem Team mitgeteilt, weshalb wir zu spät zur Morgenbesprechung kommen würden. Puupponen saß mit geschwollener Backe am Tisch. Sein Zahn hatte in der Nacht zu eitern angefangen, für den Nachmittag hatte er einen Zahnarzttermin. Puustjärvi hatte sich bereits die Laborergebnisse zu der Zyanidflasche angesehen.
»Die Flasche lag in der Nabe des Reservereifens im Kofferraum von Lulu Nightingales Auto. Derjenige, der sie dort versteckt hat, ist sehr sorgfältig vorgegangen. Auf der Flasche sind keinerlei Fingerabdrücke, und im Kofferraum wurden nur Abdrücke von Sulonen und Lulu gefunden.«
»Also dieselben wie am Glas. Sulonen war immerhin schlau genug, sie nicht abzuwischen. Wir hätten uns gewundert, wieso seine Abdrücke nicht auf dem Glas sind, das er Lulu gebracht hat.« Koivu wirkte nachdenklich. »Aber warum hat gerade Sulonen ihr das Glas gebracht? Wenn Lulu eine Flasche Beruhigungsschnaps ins Studio mitgenommen hat, warum hat sie dann nicht sofort um ein Glas gebeten? Und warum hat sie es sich von Sulonen bringen lassen und nicht von Länsimies?«
»Welcher Außenstehende konnte wissen, dass Lulu ausgerechnet Fernet Branca bei sich hatte? Oder anders herum – wenn jemand Lulu die Flasche gebracht hat, was gab ihm die Gewissheit, dass sie eine tödliche Dosis trinken würde? Nein, das alles führt uns immer wieder zu den zwei Personen, die außer Sulonen Gelegenheit hatten, Lulu zu töten: Riitta Saarnio und Ilari Länsimies. Bei den anderen macht das Ganze keinen Sinn.« Der Bleistift, den ich wie wild zwischen den Fingern gedreht hatte, brach in der Mitte durch.
»Ganz ruhig, Maria«, mahnte Koivu. Puupponen trällerte den Song »Somebody Put Something in my Drink« von den Ramones. Ich schnitt ihm eine Grimasse. Nachdem ich die nächsten Aufgaben verteilt hatte, begann ich die Rede vorzubereiten, die ich in der nächsten Woche bei der Tagung der Polizistinnen Südfinnlands halten sollte. Wenn wir mit unseren Ermittlungen bis dahin nicht weitergekommen waren, würde ich meine Teilnahme allerdings rückgängig machen müssen. Mein Thema war die Ermittlung in Vergewaltigungsfällen. Ich überlegte, warum
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