Wer sich nicht wehrt...
Aber, wie es im Leben ist, bisher zu träge, um auf die Barrikaden zu gehen. Jetzt, wo es mich selbst getroffen hat, fühle ich mich aufgerüttelt. Sie werden es übermorgen in den Zeitungen lesen.«
Prof. Sänfter schwieg einen Augenblick und legte nachdenklich seine Zigarre im Aschenbecher ab. »Ich weiß nicht, was Sie da veröffentlichen«, sagte er betont, »aber Ihr Urteil kommt mir voreilig vor. Zu emotional …«
»Tierfänger haben meiner Tochter die Katze gestohlen, dem Nachbarjungen seinen Hund, zum Verkauf an Tierversuchsanstalten! Wie sollte ich da nicht emotional reagieren?!«
»Natürlich. Das sogenannte Volksempfinden.« Sänfter blickte auf seine Uhr. »Ich halte Ort und Zeitpunkt für denkbar ungünstig, darüber zu diskutieren. Ein Vorschlag: Kommen Sie morgen zu mir in die Klinik, bringen Sie eine Rohskizze der Schwimmhalle mit, und dann unterhalten wir uns über die Notwendigkeit der Forschung. Wann könnten Sie kommen?«
Tenndorf überlegte und rechnete. »Um zehn bin ich bei der Kripo wegen der Anzeige. Dann fahre ich zu den verschiedenen Zeitungen, um das Manuskript abzugeben … Ich könnte um die Mittagszeit bei Ihnen sein, wenn es Ihnen recht ist. Ich kann auch später kommen, Herr Professor.«
»Nein, Mittagszeit ist gut. Ich esse doch bloß einen Joghurt. Habe in letzter Zeit neun Pfund zugelegt, deshalb auch die Schwimmhalle. Sagen wir: 13 Uhr 30?«
»Ist notiert, Herr Professor.«
»Und überlegen Sie das mit Ihrem Zeitungsartikel.«
»Da gibt es nichts mehr zu überlegen. Diese Tierversuche sind ein Verbrechen an der fühlenden, wehrlosen Kreatur!«
»Bis morgen, Herr Tenndorf«, sagte Sänfter kurz.
»Bis morgen, Herr Professor.«
Sänfter legte auf. Er nahm die Zigarre aus dem Aschenbecher, steckte sie neu an und sah dem träge zur Decke steigenden weißen Rauch nach. Ein Verbrechen! Wäre es nicht eher ein Verbrechen, Millionen Menschen sterben zu lassen, als neue Seren gegen Leukämie oder AIDS im Tierversuch zu testen? Ein Herzschrittmacher, heute zigtausendfach als lebensrettend eingepflanzt – wie hätte man seine Wirksamkeit erproben können ohne das Tier? Ist es nicht unerhört, daß man sich dafür auch noch rechtfertigen muß? Da wird die Lebenserwartung des Menschen erhöht, aber die Forscher, die das ermöglichen, schlägt man ins Gesicht.
Sänfter lehnte sich zurück und schloß wieder die Augen. Selbst durch die dicke Tür der Bibliothek drangen Musik und Lachen zu ihm. Reginas Gäste waren in bester Stimmung. Aus den Lautsprechern dröhnte das Gegröle eines der modernen Sänger, die gerade ›in‹ waren: »Ich liebe dich, ich liebe dich … liebst du auch mich, liebst du auch mich …?« Ein hirnloser Text.
Ist das unsere erstrebte Welt? dachte Sänfter und atmete tief durch. Generationen aus Dummheit und Ignoranz? Modeworte-Klopfer. Was wissen sie von denen, die vor mir in den Betten liegen, meine Hand umklammern und mit angsterfüllten Augen sagen: »Herr Professor, retten Sie mich … Versuchen Sie alles … Ich will doch leben …«
Soll ich denen sagen: »Tut mir leid. Es gibt für Sie kein Mittel, weil wir es nicht ausprobieren dürfen. Ihre Krankheit wäre vielleicht heilbar, aber wir können ja keine Versuche mehr machen. Was Ihnen bleibt: Beten Sie …«?
In Otternbruch kannte jeder den Bauern Willi Wulpert und seinen großen Hof am Rande des Otternhagener Moors. Die Wulperts waren eine alteingesessene Familie, deren Stolz eine Urkunde war, in der schon im Jahre 1534 die Wolphards erwähnt wurden. Der jetzige Besitzer des Hofes, Willi Wulpert, war mit nur einem Bein aus dem Krieg zurückgekehrt, und wenn man ihn danach fragte, erzählte er verschmitzt: »Das war bei den Iwans, bei 'nem Panzerangriff hinter Reshew. Flak im Erdeinsatz. Da kommen die T-34 ran, und wir haben nur noch sechs Schuß … Was haben wir gemacht? Wir haben uns jeder gegenseitig ein Bein abgeschnitten und damit geschossen …« In Wirklichkeit war Wulpert hinten beim Troß gewesen, ein Pferd hatte ihn getreten und den Oberschenkel zertrümmert.
Wulpert hatte nach dem Krieg den Hof neu aufgebaut, modernisiert. Bis er plötzlich, vor sechs Jahren, alle Lust an der Landwirtschaft verlor, die Felder verpachtete und nur noch einen kleinen Teil des Hofes bestellte. Dafür baute er an die Ställe zwei langgestreckte Hallen an, ein Stall wurde als eine Art Großküche eingerichtet, Wasserleitungen wurden gelegt, Becken aus Beton gegossen. Drei Lastwagen brachten Käfigkisten in
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