Wer sich nicht wehrt...
Institut.«
Tenndorf erhob sich brüsk, legte die Schwimmhallenskizze auf den Schreibtisch und nahm seinen Mantel über den Arm. »Ich möchte gehen, Herr Professor.«
»Das ist Ihr gutes Recht. Aber vorher sollten wir uns etwas unterhalten.«
»Ich habe Ihnen erzählt, daß die Katze meiner Tochter …«
»Ich habe das nicht vergessen. Ich besitze auch einen Hund. Einen Schäferhundrüden. Arras heißt er. Mehrfach prämiert. Ich kann Ihren Schmerz und Ihre Empörung nachempfinden.«
»Und trotzdem …« Tenndorf zeigte auf den Fotostapel. »Das Schaf im Eiswasser. Sie sind fähig, so etwas zu tun?!«
»Reden wir mal ganz vernünftig miteinander. Sie glauben doch wohl nicht, daß die Bilder zufällig hier liegen. Nein, ich wußte, daß Ihnen die Fotos auffallen würden.« Sänfter ging zur Tür des Sekretariats, bestellte bei ›Château Lafite‹ eine Kanne Kaffee und setzte sich Tenndorf gegenüber.
»Sie sehen mich an wie einen Mörder«, sagte er mit einem Anflug von Bitterkeit.
»Soweit möchte ich nicht gehen, Herr Professor, aber …«
»Das ist es, das Aber. Ich möchte Ihnen etwas erzählen, was eigentlich jeder wissen sollte.«
3
Er sah aus, als hätte er die letzten Nächte in kalten Scheunen geschlafen, eingewühlt in Heu und Stroh, am Leben erhalten nur durch mildtätige Menschen, die einen Landstreicher – behördlich ›Nichtseßhafter‹ genannt – nicht sofort von der Tür jagen.
Er schob ein altes Fahrrad vor sich her, auf dessen Gepäckträger ein kleiner Sack mit Wäsche und zwei flachen Blechbüchsen lagen, in denen er eßbare Abfälle sammelte für den Fall, daß ein Tag ohne einen mitfühlenden Menschen verging. Er glich einem biblischen Heiligen: bis zum Brustbein reichender Bart, lange Haare, die auf die Schultern fielen, ein bis zum Boden reichender weiter, dicker grauer Mantel, der nicht nur als Kleidungsstück diente, sondern anscheinend auch als Schlafdecke. – Das einzige wirklich Solide an ihm waren seine Schuhe. Das wichtigste Werkzeug seines Daseins – ohne gute Schuhe ist ein Tippelbruder verloren. Sie müssen dicksohlig, wasserdicht und aus derbem Rindsleder sein. Wer die Welt unter seine Füße nimmt, muß auch auf Steine treten können.
Er kam die Straße von Otternbruch herunter, auf den Lenker des Fahrrades gestützt, sichtlich müde trotz der morgendlichen Stunde, schwenkte an der Kreuzung ab und trottete den Privatweg des Wulpert-Hofes entlang. Vor den Ställen blieb er stehen, lehnte das Rad an eine Mauer und sah sich um.
Willi Wulpert, der aus dem Wohnhaus kam, um nach Hamburg zu fahren, wo ein internationaler Tierhändler auf ihn wartete, der Affen aus Borneo, Celebes und West-Irian in großer Menge anzubieten hatte, Willi Wulpert also blieb erstaunt stehen und kam dann näher. Der Landstreicher grinste breit und zutraulich.
»Wie bist du reingekommen?« fragte Wulpert barsch.
»Über die Straße und durchs Tor …«
»Das Tor war offen?!«
»Zum Drüberklettern ist's zu hoch …« Der Landstreicher hob lauschend den Kopf. »Das ist ja ein Gebell! Sie müssen 'ne Masse Hunde haben. Wohl Jäger, was? 'ne Meute Jagdhunde? Da habe ich mal in Frankreich bei einem Marquis übernachtet, in 'nem richtigen Schloß, so mit Türmchen und so, der hatte vierunddreißig Jagdhunde, die ihm das Wild vor die Flinte trieben. Und in Spanien …«
»Was willst du hier?« unterbrach Wulpert grob.
»'ne Art Frühstück, wie man so sagt. Kann auch altes Brot sein, 'nen Schluck Kaffee könnte ich auch vertragen. Saukalt ist's geworden.«
Wulpert musterte den Tippelbruder. Im Sommer standen oftmals solche ›Wanderer‹ vor seiner Tür, bekamen Kaffee, ein Wurstbrot oder übriggebliebene Kartoffeln. Und wer arbeiten wollte und es auch tat, konnte sich mit Schinken und Speck vollschlagen und erhielt sogar eine Flasche Korn als Prämie. Aber länger als zwei Wochen war kaum einer geblieben … die Verlockung der Ferne und der Freiheit waren stärker.
»Hast den Absprung verpaßt, was? Deine Kumpane haben längst ihr Winterquartier bezogen.« Wulpert winkte dem Landstreicher zu, trat mit ihm unter das Garagendach und bot ihm eine Zigarette an.
»Bei mir hat's nicht geklappt. Mich haben se um 'n warmes Bett beschissen.« Der bärtige dürre Mensch inhalierte gierig den Zigarettenrauch. »Zum erstenmal seit sieben Jahren. Scheiße, sage ich! Jedes Jahr ist's mir gelungen: Ein kleiner Diebstahl, so gerade am Mundraub vorbei, den sie ja immer milde beurteilen, brachte jedesmal
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