Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wildenhain
Vom Netzwerk:
angespannt. Nicht bloß Sürel, der sich mit geschürzten Lippen hinter einem Sack verkroch und schwieg.
    Dabei trafen wir uns schon seit fast zwei Jahren in diesem Lagerraum des Gemüseladens von Ayfers Eltern. Wir saßen im Halbdunkel zwischen Obstkartons und -kiepen, offenen Säcken mit Getreide, wenigen Getränkekisten, rochen den Geruch der Ruhe, der Gewürze und der Wände aus rau verputztem Stein.
    Man konnte die vielfältigen Düfte beim Einatmen fast schmecken, und jedes Mal waren die Treffen so, als wirkte sich die Stille, das gedämpfte Licht, der Duft auf die Anwesenden aus, und zwar angenehm, entspannend wie ein Schaumbad. Heute nicht.
    Es lag nicht nur daran, dass Sürel schmollte. Auch nicht daran, dass Lisa durch Kais lange Haare fuhr. Ich spürte es zwar deutlich, aber ich verstand nicht, was der Grund für die Verstimmung war.
    Franco stieß mich an. Auch er schien etwas zu bemerken, zwinkerte mir zu und nieste. Immer wenn ihm unbehaglich wurde, fing er an zu niesen.
    Ayfer wiegte ihren Kopf und begann zu summen.
    Kai war inzwischen bis zum Kern seiner Schilderung gekommen. Alle staunten. Bis auf Lisa, die, egal was Kai tat, seine Brillenbügel kraulte, ihn bewunderte und ihm deshalb mit gespitzten Lippen klitzekleine Küsschen gab. Ich musste mich schütteln.
    Franco stieß mich wieder an. So als wolle er mir sagen: Lass uns gehn, das Geknutsche kann man sich nicht ansehn ohne Gänsehaut zu kriegen! Aber ich blieb sitzen, weil man bei den Treffen nicht so einfach ging.
    Kais Geschichte, kurz und knapp: Die Brüder waren rausgeflogen, weil sie auf der andern Schule eines Tages, als der Primus sich im Kurs gemeldet hatte, plötzlich auf ihn zugegangen waren und ihm, während er beim Melden heftig mit den Fingern schnipste, jeder einen schweren Atlas auf den Kopf gehauen hatten. Als sie später im Lehrerzimmer nach den Gründen gefragt worden waren, hatten sie gesagt: »Ein Klugscheißer. Solche können wir nicht ausstehn.« Und: »Er hat noch Glück gehabt, manchmal sind wir nicht so zimperlich bei Strebern!«
    »Der Primus«, sagte Sürel aus seiner Ecke, »hatte eine Gehirnerschütterung. Und was an den Rippen. Haben noch voll zugetreten, als er schon am Boden lag. Und deshalb müssen die Brüder jetzt Sozialdienst machen. Nachmittags. Darum haben sie der alten Frau damals über die Straße geholfen und den Einkauf besorgt.«
    »Kommen die beiden eigentlich irgendwann wieder zur Schule?«, fragte Lisa.
    Das fragten sich alle in der Klasse. Denn nach der Fete waren die Brüder nicht mehr aufgetaucht. Sie blieben bis auf Weiteres vom Unterricht ausgeschlossen.
    »Ist noch nicht entschieden«, sagte Kai. Er kratzte sich an der Stirn.
    »Wieso nicht entschieden?«, fragte Franco.
    »Weil sie vielleicht auch bei uns wieder runterfliegen«, meinte Kai. »Die Colaflasche …«
    »Und wie geht es Viktor?«, fragte Ayfer.
    »Ist nicht so schlimm, hab ich gehört.« Sürel kroch aus seiner Ecke vor und hockte sich zu Franco, der bloß auf den Boden stierte.
    Ayfer murmelte: »Den Primus?«
    »Ist doch logisch«, knurrte Franco. »Genau wie Kai gesagt hat: weil das ein Streber war!«
    Da Francos Sätze eigenartig böse klangen, schwiegen wir.
    Und während sich zwischen den Gewürzdüften die Stille breitmachte wie schwarzer Staub, dachte ich daran, wie die Brüder hin und wieder versucht hatten sich am Unterricht zu beteiligen. Sie starrten dann gespannt nach vorn. Manchmal zuckte der Arm des einen ruckartig hoch. Aber nur selten gelang ihnen die richtige Antwort. Und immer wenn ihr Beitrag falsch war, fühlten sie sich ungerecht behandelt und waren danach jedes Mal längere Zeit nicht ansprechbar. Manchmal sogar für Tage. Und wenn die Lehrer sie dann fragten, schwiegen sie und schauten verbissen vor sich hin.
    Die Stille in dem Lagerraum wurde nicht mehr unterbrochen. Nur Ayfer sagte, ehe wir uns trennten, leise, als könne sie meine Gedanken lesen: »Die Brüder möchten gern kluge Brüder sein.« Sie lachte. »Doch das schaffen sie unter ihren Glatzen nicht und dann sind sie beleidigt.« Sie wiegte nachdenklich den Kopf. »Aber vielleicht fliegen sie. Und dann sind sie für uns egal … Das wäre das Beste …«
    Ich war der Einzige, der hörte, dass Ayfer etwas sagte, und deshalb nickte ich.
    Sie fragte noch: »Wer kommt mit, Viktor besuchen?« Und weil alle schwiegen, sagte sie: »Na gut.«
    Während wir hinaus ins grelle Licht des Nachmittags traten, wuchs in mir das Gefühl, als hätten wir uns zum

Weitere Kostenlose Bücher