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Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wildenhain
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sehen?«
    »Hm, es riecht hier eigenartig«, sagte Franco unbehaglich, »das war tagsüber noch nicht so.« Seine Stimme klang im Dunkeln klein, belegt, nicht mehr bestimmt wie vorher.
    Ich musste husten, weil mir der Geruch des Bluts den Atem nahm. »Tagsüber ist alles besser, weil man alles besser sieht.«
    Franco schien das nicht zu trösten.
    »Vielleicht«, fügte ich hinzu, »wird tagsüber hier auch nicht so viel geschlachtet.«
    Ich flüsterte unwillkürlich, obwohl ich schon mal gesehen hatte, wie ein Huhn geköpft wird. »Das, was riecht, ist das Blut der Tiere, der Schweine.«
    Franco malmte: »Kann schon sein. Trotzdem wird mir schlecht.«
    Und gerade, als ich sagen wollte: Kotz aber lieber leise, weil sie uns sonst entdecken!, genau in dem Moment erkannten wir die Brüder, die durch die Halle stapften. Jeder trug ein totes Tier. Die Halle war erleuchtet. Die Tore waren riesig und standen sperrangelweit auf.
    »Das«, murmelte Franco, »das hab ich dir zeigen wollen. Und wie sie mit ihren Messern alles in Portionen teilen …«
    Ich fragte, ob sie das dürften, wo sie doch erst sechzehn waren. Franco übergab sich.
    Vielleicht hätte uns keiner der Arbeiter entdeckt, obwohl man Francos Erbrechen über den Hof hallen hörte. Vielleicht hätte der Schatten der Schuppenwand uns auch verborgen. Aber als Franco anfing, sein letztes Essen vor sich auf die Bahnschwellen zu speien, ging gleichzeitig der Scheinwerfer an einem Sattelschlepper an und zudem kroch ein Güterzug, drei Lichter in der Dunkelheit, langsam auf uns zu.
    So sahen uns gleich zwei. Die Brüder waren nicht darunter. Ich rannte mit Franco zum Hafenbecken. Und nur, weil wir ins Wasser sprangen, wurden wir nicht weiter verfolgt.
    Es war ein stillgelegtes Becken. Im Wasser trieben Dosen und Reste toter Schweine. Hier mal ein Knochen, dort noch Schwarte. Dazwischen schillerte Benzin. Und obwohl ich befürchtete, dass Franco untergehen würde, schwamm er und kotzte währenddessen. Es war ein widerlicher Anblick. Doch auch dass wir im Hafenbecken an alte Kotelettknochen stießen, war nicht besonders angenehm.
    Wenn ich nicht gerade Wasser schluckte, dachte ich an meine Eltern. Sie würden fragen, weshalb ich so nass sei und außerdem nach Kraftstoff rieche. Mein Vater sagte immer Kraftstoff. Manchmal überlegte ich, ob er vielleicht durch seinen Beruf ein bisschen ungewöhnlich war. Die Leute kamen zu ihm in die Praxis und legten sich auf eine Couch. Und während sie zur Decke schauten, begannen sie zu reden. Mein Vater saß nur da und lauschte. Und hin und wieder schrieb er ein Wort auf einen Block und unterstrich es. Er lauschte wirklich und hörte nicht nur einfach zu. Und weil er wirklich lauschte, bekam er dafür Geld.
    In der Schule redete ich niemals von der Arbeit meines Vaters. Ich wusste, alle würden lachen. Ich lachte manchmal auch. Aber nur heimlich. Und manchmal musste ich auch heulen. Besser wäre es gewesen, mein Vater hätte so wie der von Ayfer Gemüse oder Obst verkauft. Oder wie der von Sürel in der Fabrik gearbeitet – von mir aus auch wie Francos Vater auf dem Bau. Aber er lauschte nur, was andere sagten. Und schrieb vereinzelt Wörter aufs Papier.
    Als Franco und ich die andere Seite des unbenutzten Hafenbeckens erreichten und dort an der Mauer sogar die Eisenleiter fanden, dachte ich daran, dass mein Vater hin und wieder sagte: »Vielleicht solltest du doch aufs Internat.«
    Ich kannte Internate nur aus Filmen. Sie wirkten fremd und altertümlich und ähnelten in ihrer Art dem komischen Gehabe Viktors. Ich zuckte jedes Mal die Schultern. Ich wusste, was mein Vater als Nächstes sagen würde: »Aber wahrscheinlich ist es besser, du bleibst dort, wo du bist. Ist viel konkreter .«
    Ich ahnte, dass mein Vater die Mitschüler im Auge hatte, wenn er das Wort konkret benutzte, und fragte mich, ob alle von uns dazu gehörten oder nicht. Ein bisschen klang das Wort – so, wie er es benutzte – nach einer Krankheit, die man nur ab und zu mal spürt.
    Die Leitersprossen, an denen Franco und ich uns festhielten, um erst mal zu verschnaufen, waren voll mit Schmiere, glitschig und mit Moos bedeckt. Obwohl die Luft noch warm war, fingen wir an zu frieren.

12
    Wir stanken. Franco trat eilig die Pedale, ich stand auf dem Hinterrad und zitterte ein bisschen. Während Franco strampelte, grummelte er hin und wieder: »Mist, das kriegt mein Vater raus. Oh, Mann, und dann gibt’s Senge …!«
    Ich überlegte, was mein Vater oder meine Mutter

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