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Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wildenhain
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Kleine, unscheinbare Schritte. Viktor wirkte nicht mehr so, als ob er aus alten Filmen aufgetaucht sei und nur staksen könnte statt zu gehen. Er war endlich angekommen. Die Schachtel mit den Crackern blieb im giftig grünen Licht unbeachtet liegen.
    Es blieb ihnen eine Minute, bis die Tür erneut mit einem kurzen Ruck geöffnet wurde. Herein kamen die Brüder. Sie blieben stehen und schauten Tina zu.
    Unwillkürlich packte Franco mich am Arm.
    Man konnte sehen, wie sich Sürel an der Wand duckte. Seine Muskeln spannten sich unter seinem T-Shirt. Trotz des Zwielichts sah man seine Sehnen, die am Hals hervortraten, weil er seine Zähne aufeinanderbiss.
    Ich begann zu schwitzen.
    Franco zischte: »Das geht schief.«
    Maren Schubert tanzte weiter. Nur der Türke, der von Sürel eingeladen worden war, rückte langsam von ihr ab und glitt, eine große Katze, die sich in den eignen Schatten duckt, zurück zur Wand, zu Sürel.
    Sehr seltsam benahm sich Ayfer. Hielt nach einem Schritt kurz inne. Wendete sich wie im Traum mir zu, trippelte zurück, drehte sich im Kreis, stieß mit dem Knie an einen Stuhl, setzte sich und stützte ihren Kopf in beide Hände.
    Alle warteten.
    Die Brüder gingen langsam durch den Raum. Schlichen nicht und wirkten dennoch so, als schluckten ihre Sohlen jeden Laut, obwohl die Stiefel auf dem gelblichen Linoleum tickten – tick, tack, tick – bei jedem Schritt.
    Viktor tanzte enger, eng, ohne darauf achtzugeben, was um ihn herum geschah. Tina – das war sonderbar – blieb trotz der stillen Drohung bei ihm. Drückte sich noch dichter an ihn.
    Ayfer vergrub ihr Gesicht in den Händen.
    Doch als sich die beiden Brüder vor dem Tisch mit den Getränken aufstellten und Maren Schubert sich zu ihnen gesellte, spürte ich, wie Franco sich entspannte. Ich sah, wie sogar Sürel sich neben seinem Freund bewegte, und hörte, wie Ayfer aufzuatmen schien.
    Später dachte ich, vielleicht hatte sie auch nur geschluchzt. Doch zunächst war ich wie alle anderen erleichtert. Bis Karl-Heinz die Colaflasche, die er in der Hand hielt, an der Tafel ansatzlos zerschlug.
    Eberhard riss Tina weg von Viktor, ohrfeigte sie zweimal, ohne dass sie reagieren konnte, schubste sie danach in eine Ecke.
    Sürel, der nach vorn stürzte, wurde durch sie aufgehalten, konnte folglich nicht verhindern, dass Karl-Heinz den Flaschenhals durch Viktors Gesicht zog.
    Später stellte sich heraus, dass die Wange zwar zerschnitten, die Wunde aber harmloser war, als wir zuerst dachten. Doch im Augenblick sahen alle bloß das Blut, das vom Gesicht stetig auf den Boden tropfte, um sich dort als dunkle Lache auszubreiten. Viktor, der die Augen schloss, hob die Hände und fuhr hilflos mit den Fingern durch die Luft.
    Die Musik lief langsam weiter. Und auch das Licht blieb giftig grün. Nur der Freund von Sürel griff, während alle warteten, ohne Eile nach der Hand, aus der noch der Flaschenhals vorragte, und hielt sie fest.
    Nichts passierte. Für Momente schien die Zeit auszusetzen. Jeder von uns blieb an seiner Stelle, blieb, wo er gestanden hatte, stehn.

10
    »Wir haben etwas rausgekriegt«, sagte Sürel. Er schaute mich und Franco gewichtig an, als müssten wir vor Ehrfurcht verstummen. Seit Sürel dreimal in der Woche zu seinem Kung-Fu-Training ging, bewegte er sich nicht nur wie ein Cowboy, er ließ auch sein Gesicht kaum einmal lächeln. Die Blicke kühl und abweisend, ein Pokerface. Er machte seine Lippen schmal und gab sich sogar gegen seine Freunde hart und steif. Wir grinsten, wenn wir ihn so sahen, schmunzelten heimlich, oft auch offen. Aber er schien es nicht mal zu bemerken.
    Kai nuschelte mit einem unterdrückten Grinsen in den Mundwinkeln: »Wir war’n bei ihrer alten Schule, Sürel und ich.«
    »Von der …, von der sie …«, Sürel verhaspelte sich fast, um Kai zu unterbrechen, »… sie runter … von der man sie geschmissen hat, die beiden Glatzen!« Und wieder gab er seinen Worten ein besonderes Gewicht.
    Doch nach kurzem Schweigen sagte Ayfer nur: »Ach so.«
    Auch Lisa meinte: »Ach.« Es klang wie ein halb verschlucktes Echo.
    Und da Sürel sich deshalb, als sei er nun beleidigt, auf die großen Jutesäcke mit Kartoffeln fallen ließ, musste Kai erzählen, was sie an der Schule rausgefunden hatten.
    Ich konnte der Erzählung nur mit halbem Ohr folgen. Denn wenn Kai anfing zu reden, wurde alles umständlich. Außerdem war bei dem Treffen heute etwas anders, nicht wie sonst gelöst und freundlich. Alle wirkten

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