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Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wildenhain
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Wange sah. Sogar die dunklen Fäden ragten noch aus dem Schorf hervor. Aber die Brüder taten so, als hätten sie kein Wässerchen getrübt. Viktor merkte man nichts an. Er schien noch nicht mal aufgeregt zu sein.
    Manchmal wirkte er ein bisschen wie der Spinner aus Indien, von dem wir nur gehört hatten. Einer, den man hauen konnte und der sich dann höchstens hinsetzte und friedlich war. Der hatte aber damals sogar irgendwas erreicht. Weil er es immer wieder tat, mit immer mehr Verbündeten, die alle nicht zurückschlugen. Bloß war hier nicht Indien, sondern eben Deutschland und die Gegenwart.
    Sonderbarerweise hatte sich Viktors Vater für die beiden Brüder beim Schuldirektor eingesetzt.
    »Vielleicht«, sagte Ayfer, »will er, dass sich Viktor endlich wehrt.«
    »Ob er das schafft, nur weil es sein Vater möchte?« Ich hatte meinen Platz mit Sürel tauschen können und saß nun neben Ayfer, vorn in der ersten Bank.
    Sürel tat noch immer so, als sei er mindestens ein Cowboy. Er hatte bloß die Schultern kurz gehoben, hatte die Pulloverärmel hochgeschoben und den Bizeps ein-, zweimal nach oben springen lassen. Ayfer hatte den Kopf geschüttelt und unwillig die Stirn gerunzelt.
    Sürel hatte noch genuschelt: »Franco, der scheint jetzt gar nicht mehr zu kommen.« Aber er irrte sich, denn Franco kam nach der ersten Stunde.
    Ayfer irrte sich auch. Oder vielmehr: Viktors Vater hatte sich geirrt.
    Denn schon gegen Ende der ersten Stunde spürte man, dass Eberhard und Karl-Heinz auf ihren Plätzen unruhiger wurden.
    In der Pause gingen sie rasch zu Tina. Es schien, als drängten beide sie, irgendwas herauszugeben, das sie keinem der beiden überlassen wollte. Karl-Heinz packte sie am Nacken, aber sie rückte es trotzdem nicht raus. Bis Franco sich dazugesellte, kaum dass er das Klassenzimmer unbemerkt betreten hatte. Ihm gelang es, ihr den Zettel, den sie in der Hand verbarg, blitzschnell zu entreißen.
    Später habe ich mich oft gefragt, warum Franco die Nachricht auf dem Zettel nicht, bevor die Stunde anfing, selber vorlas. Vielleicht schämte er sich immer noch, weil Viktor uns damals gegen die Brüder beigestanden hatte.
    Nur half das Viktor gar nichts mehr. Denn nachdem es geklingelt hatte und bevor die Lehrerin im Klassenraum erschien, glättete Karl-Heinz den Zettel und erhob sich langsam. Neben ihm stützte Eberhard wortlos sein Gesicht in beide Hände, so, als ob er sich verstecken würde.
    Tina reckte sich. Es schien, als ob sie etwas sagen wolle. Doch dann plumpste sie zurück. Wie ein Sack in ihre Bank, in der sie allein saß. Sie wandte sich brüsk ab und stierte unbeteiligt aus dem Fenster. Während Karl-Heinz den Zettel noch mal gewichtig glatt strich, tat sie so, als würde sie all das nichts mehr angehen. Und die Klasse wurde plötzlich still.
    Tina starrte auf die braunen Blätter, die draußen vor dem Fenster hin und wieder von den Zweigen fielen. Alle anderen begafften Karl-Heinz. Bis auf Eberhard, der sich mit der Stirn voran auf den Tisch legte und ächzte. Doch das hörte außer mir nur Ayfer. Und vielleicht Karl-Heinz, der die Nachricht laut und deutlich vorlas. Langsam, Wort für Wort.
    Es war ein Liebesbrief. Und Viktor, der den Brief geschrieben hatte und anscheinend jetzt erst den unscheinbaren Zettel in Karl-Heinz’ Hand erkannte, richtete sich stocksteif auf. Er horchte auf die ersten Worte – so, als ob ein Mann im Märchen eine dünne Melodie im dunklen Wald zu hören meint und es noch gar nicht glauben kann. Er lauschte angestrengt, als auf dem Zettel von seinen eigenen Gefühlen gegenüber Tina die Rede war, obwohl er doch die Sätze – es waren nicht sehr viele – besser als jeder andere kennen musste.
    Als das letzte Wort im stillen Klassenraum verklang, sackte er in seinem Stuhl zusammen, nachdem er vorher einmal tief gestöhnt hatte.
    Das Geräusch kroch uns das Rückenmark entlang bis ins Gehirn und blieb dort hängen. Es klang, als müsse sich der Ton gewaltsam einen Weg bahnen, den Hals hinauf und über Viktors Zunge, gepresst an seinen Lippen, blutleer und blass, vorbei.
    Dann ging die Tür auf. Maren Schubert wünschte, fröhlich wie immer: »Einen guten Tag.«

19
    Es war noch immer heiß, obwohl die Bäume die Blätter langsam abwarfen, es schien, als hätte sich die Hitze zwischen den Häuserwänden festgesetzt.
    Zunächst geschah sehr wenig. Trotz Viktors Liebesbrief hätte man denken können, alles sei so wie früher. Nur unter der Oberfläche gab es eine

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